Metaebene #01 – Stray
Willkommen zur Metaebene!
Diese Kolumne will Spielejournalismus aus Sicht der Leser:innen beleuchten. Völlig subjektiv, aber gerne analytisch. Also: Was ist gut? Was nervt? Und was fehlt? Spoiler: die korrekten Antworten lauten natürlich "Last Game Standing", "Reichweitenjournalismus" und "WASTED". In dieser Reihenfolge.
Stray
Für die erste Ausgabe nehmen wir uns dazu einige Reviews eines Spiels vor, das es geschafft hat, letztes Jahr gleichzeitig unerwartet und doch total erwartbar zu einem Hit zu werden: das Katzen-Cyberpunk-Mashup Stray. Katzen gehen ja immer, und Cyberpunk geht ja eigentlich auch immer – jedenfalls wenn man den PlayStation-Port nicht verbockt. Aber schon beim Thema Cyberpunk steckt deutlich mehr dahinter, als die niedliche Neon-ausgeleuchtete Kuschelatmosphäre von Stray es vermuten lässt. Ein Fakt, der uns vom ersten Autor direkt auch mit Verve um die Ohren gehauen wird.
Brief & Sigl
Brief und Sigl ist eine Kolumne von Rainer Sigl, die ursprünglich bei Wasted publiziert wurde. Einzelne Ausgaben wurden sogar auf richtigem Papier und mit echtem Wachssiegel verschickt. Mittlerweile erscheint der Newsletter bei Substack. Dort im Archiv befindet sich auch der Text über Stray: Cyberpunk’s dead.
900 Wörter lang feuert hier die Popkultur-Referenzmaschine aus allen Rohren. Es beginnt mit „Ich möchte Teil einer antikapitalistischen Jugendkultur sein“ (sehr schön, Tocotronic lässt grüßen), dann folgt die Information, dass Katzen-Memes keine Erfindung des Internets sind, da es jene schon seit den 1870er-Jahren gibt (schon unsere Urgroßeltern konnten also davon genervt sein), bis hin zum immer unfassbar coolen Gibson-Zitat „Die Zukunft ist da, sie ist nur nicht gleichmäßig verteilt“ (jetzt wo du es sagst, sehe ich es auch …). Es ist ein wahres Fest.
Das zeigt sehr schön, wie ein Text über Spiele huckepack noch weitere kluge Gedanken unterbringen kann. Ich hatte z. B. ganz vergessen, weshalb Cyberpunk-Welten immer so asiatisch angehaucht aussehen. Antwort: Weil die Amerikaner in den 80er-Jahren Angst vor japanischen Autobauern hatten und dachten: „die Zukunft wird von Japanern dominiert“ …
Insgesamt ein toller Text und ein Paradebeispiel dafür, was man aus einem Spiel noch so alles herausholen kann. Einzig: mir ist der Ton zu ernst. 900 Wörter lang Gründe warum die Welt scheiße ist. Das wusste man grundsätzlich irgendwie auch schon vorher, ein kondensierter Batzen zusätzlicher Gründe macht da die Stimmung nicht besser. Selbst ein abschließendes „Aber die Katze, die ist cool“ reißt es dann auch nicht mehr raus.
Das liegt natürlich zum Teil auch daran, dass es keine Spielekritik im eigentlichen Sinne ist. Hier wird ja nichts getestet, hier wird nur gemosert. Daher direkt zum stimmungstechnischen Kontrastprogramm:
Gamestar
Der Stray-Test befindet sich in all seiner Schönheit hinter der Bezahlschranke, wie nahezu alle guten Dinge bei der Gamestar (was explizit kein Vorwurf ist).
Stray im Test: Das meistgewünschte Steam-Spiel ist ein wahres Cyberpunk-Fest (gamestar.de)
Autorin Géraldine Hohmann, die Frau mit dem coolen Vornamen, beginnt den Test mit einem schönen Schocker: „Ich finde Katzen für sich genommen nicht besonders aufregend“. Kawumms. Im katzenbegeisterten Internet handelt man sich sonst schon für weniger kontroverse Thesen kolossale Shitstorms ein. Gleichzeitig aber natürlich ein guter Kniff, um direkt am Anfang ein wenig die Luft aus der damaligen Katzenhype-Blase herauszulassen.
Schön auch: Géraldine liefert selbst als Katzen-Allergikerin den besten Katzen-Content. Kostproben gefällig? Gerne: „Man stelle mich an den Pranger und bewerfe mich mit Katzenhaaren!“, „Das lasse man sich mal auf der rauen Katzenzunge zergehen“, „Ich weiß ja nicht, ob ihr es wusstet, aber Katzen haben in der Regel nur sehr begrenzte Computerkenntnisse.“, „Meine größte Stärke wiederum ist es, flink wie eine Katze … also ähm, flink wie ich selbst durch die Städte zu klettern und zu springen.“
Das klingt gut, und liest sich auch gut. Was hingegen nervt: gelegentlicher gefühlter SEO-Sprech und völlig unmotivierte Fett-Markierung von zufällig wirkenden, unwichtigen Textteilen. Beispiel: „Ohne an der Stelle zu viel zu verraten, aber Stray nimmt irgendwann eine Wendung, mit der ich ganz und gar nicht gerechnet habe.“ Was soll dieser Satz? Was soll dieser Fettdruck? Mein Vorschlag: Alle fett markierten Teile kommen raus und werden durch einen zufälligen Satz aus Brief & Sigl ersetzt. Dann ist es der perfekte Text. Oder zumindest der perfekte Homunkulus-Zombie, dem die Arme falsch herum am Körper angetackert worden sind.
In der Kategorie Lesevergnügen liegt Géraldine damit jedenfalls überraschend auf Platz 1.
Wer jedoch meint, dass Lesevergnügen und Formulierungs-Phantasien nicht die Aufgaben eines Spieletests sind, der wird vielleicht hier glücklich:
Gamersglobal
Gamersglobal ist für mich immer ein bisschen gelebte Nostalgie, quasi das Internet, wie es früher einmal war. Als man bei *EO noch an LEO (Wörterbuch) und nicht an SEO (Teufelszeugs) dachte. Aber auch die Zeit als Layouts noch nicht von Layoutern, sondern eher von farbenblinden Programmieren gemacht wurden.
Gaming-Journalismus-Urgestein und Gründungs-Chefredakteur der Gamestar Jörg Langer und sein Team beweisen hier, dass man einen Spieletest-Vollsortimenter auch ohne Reichweitenjournalismus-Verrenkungen primär leserfinanziert hinbekommen kann. (Auch wenn es ist nicht leicht ist, aber das ist ein Thema für eine andere Kolumne.)
Der Test von Hagen Gehritz zu Stray ist kurz, knapp, konzise und endet mit einer fairen 7,0. Da hat sich jemand nicht von der Katzenbegeisterung anstecken lassen. Alles in Jörg Langers bester "Stiftung Warentest"-Tradition. Nicht weniger als 16 Checkboxen klären einen außerdem darüber auf, ob das Spiel einen Kopierschutz besitzt, ob es beim Start eine Internetverbindung benötigt oder ob es eine VR-Version für HTC Vive gibt. Fakten, Fakten, Fakten. Das gibt auf der Metaebene 4,5 "Stiftung Warentest"-Lookalike-Punkte.
Wenn’s aber wirklich darum geht herauszufinden, ob Stray denn nun ein gutes gemachtes Spiel ist oder nicht, dann ist Gamersglobal der richtige Anlaufpunkt. So wie Stiftung Warentest für Kopfhörertests. Auch wenn Hifi-Aficionados das anders sehen mögen.
Aber es geht halt nicht immer unbedingt nur darum herauszufinden, ob ein Spiel handwerklich gut oder schlecht gemacht ist. Dass da durchaus auch mehr geht, zeigt seit seinem Test von Baldur’s Gate aus dem Jahr 1998 der folgende Reviewer:
Spielvertiefung
Die Spielvertiefung ist ein Projekt von Jörg Luibl, vormals Chefredakteur von 4Players. Dort hat er maßgeblich einen Review-Stil geprägt, den er selbst schon 2004 als ‚Analytische Subjektivität‘ bezeichnet hat. Für Gucker:innen statt Leser:innen : Schlappe 15 Jahre später nochmals mit Bart und als Video. Und wer jetzt denkt „Analytik und Subjektivität, hat sich das nicht jemand direkt im dritten Satz zu Beginn dieser Kolumne auf die Fahne bzw. die Metaebene geschrieben?“, der liegt richtig.
Außerdem ist Jörg der einzige mir bekannte Reviewer, der regelmäßig das Wort „Regie“ in seine Reviews einstreut. „Die Regie macht dies gut, die Regie macht jenes schlecht“. Vielleicht geht’s nur mir so, aber ich bin direkt doppelt so stolz auf ein erworbenes Computerspiel, wenn ich weiß, dass da eine „Regie“ mit in der Schachtel steckt. Ein Tetris, von dem man weiß, dass es eine Regie hat, spielt sich direkt doppelt so toll wie eines, von dem man das nicht weiß. Ihr glaubt nicht an eine Regie in Tetris? Es gibt sogar eine ganze Gamespodcast-Folge zu Storytelling in Tetris … Tetris & Storytelling | The Pod (gamespodcast.de) …
Ein SpieleTEST soll … ein Spiel testen. Oder wie Gamersglobals Mission-Statement es formuliert: „wertige Spiele fördern und vor miesen Spielen warnen“. Eine SpieleKRITIK als (hust) literarisches Produkt muss dagegen aber mehr können. Hier meine drei Kriterien für eine „Metaebenen-taugliche“ Spielekritik:
- Bringt mir das Lesen des Reviews auch dann Vergnügen, wenn ich das Spiel gar nicht spielen werde?
- Macht mir das Spiel beim Spielen mehr Spaß, wenn ich zuvor das Review gelesen habe? Zum Beispiel, weil ich dann Sachen genießen kann, die mir sonst gar nicht aufgefallen wären?
- Lerne ich aus dem Review etwas Neues, auch jenseits der Dinge die sich direkt auf das Spiel selbst beziehen? Mein Lieblingsbeispiel ist hier die Info, dass 25% der Cowboys wirklich Schwarze waren. Entnommen aus Eikes Weird West Review bei Wasted. Vorher dachte ich tatsächlich, Will Smith sei der erste schwarze Cowboy überhaupt gewesen (in Wild Wild West).
Wenn man mindestens eine der drei Fragen mit ‚Ja‘ beantwortet kann, dann ist es eine gute Spielekritik. Sonst ist es eben „nur“ ein Spieletest.
Jörg Luibl ist da einer von den wenigen, der regelmäßig an allen drei Fronten abliefert. Und so natürlich auch mit seinem Stray-Review. Ehrlicherweise war ich aber trotzdem leicht enttäuscht (verwöhnte Leser und ihr Anspruchsdenken nunmal …): Wenn es um das Lesevergnügen geht, liegt diesmal Geráldine vorne; was Zusatz-Kontext angeht, ist Rainer Sigl kaum schlagbar. Alles am Spielvertiefung-Review war gut, aber irgendetwas passte nicht.
Erst kürzlich kam ich auf des Rätsels Lösung: Das gehört nicht gelesen, das gehört gehört! Denn es gibt alle Rezensionen auch eingesprochen als Podcast, und nur so entfalten sie ihre volle Wirkung. Fast wie in einem Hörspiel entführt Jörg den Hörer in die Welt des jeweiligen Spiels, beleuchtet Atmosphäre und Spielerfahrung, greift Details heraus und vergleicht mit anderen Spielen. Die Wirkung ist wunderbar und nur schwer zu beschreiben. Mein Vorschlag daher: gönnt euch einen Monat Spielvertiefung, sucht euch die Rezension eines eurer Lieblingsspiele heraus, und hört sie euch an. Ich hab das gerade bei meinem All-Time-Favorite Into the Breach ausprobiert und die emotionale Wirkung war durchschlagend: Man mag sein Lieblingsspiel danach direkt noch ein wenig mehr.
Fazit
Vier Reviews (naja, dreieinhalb), vier unterschiedliche Stile. Welches hat euch am besten gefallen? Ist eine Metaebene überhaupt etwas, was es in einem Review braucht? Lasst es mich wissen, hier geht’s zur Diskussion im Wasted-Forum.