Open Beta: S.T.A.L.K.E.R. 2: Heart of Chornobyl
In Open Beta öffnen wir M10Z für eure Gastbeiträge. Kurze Gedankenblitze, lange Kolumnen, Spielkritiken, … alles kann, nichts muss.
Ein Gastbeitrag von: Thomas Hainscho.
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Ich blättere durch einen Bildband über Tschornobyl (The Long Shadow of Chernobyl mit Fotos von Gerd Ludwig) und sehe Bilder von Kindergesichtern, denen ein Auge fehlt.
Ich schaudere, aber „die Katastrophe von Tschornobyl“ klingt für mich heute nach ferner Vergangenheit. Auch der Bildband wirkt wie ein Relikt. Von einigen Buchseiten mache ich Fotos mit dem Handy, weil mir das bloße Betrachten als zu wenig erscheint. Tschornobyl ist ein Stück Welt, das vom Menschen zerstört worden ist. Wie viele Unfälle hat es in den rund 70 Jahren Nutzung von Atomenergie gegeben, und wie viel Fläche ist für wie viele Jahre dadurch unbewohnbar geworden? Meine Mutter erzählt, sie habe, als sie mit mir schwanger war, Jodtabletten nehmen müssen, „wegen Tschnernobyl“. Vergessen ist Unglück und Segen zugleich. „Die EU-Kommission hat am Mittwoch Atomkraft und Gas offiziell in ihre Taxonomie aufgenommen, die festlegt, welche Finanzinvestitionen als klimafreundlich gelten“ (orf.at, Februar 2022). Kannst du die Toten zählen? Danja Zucchini weiß, wo er am 11. März 2011 war, und was er getan hat, als es in den Reaktoren des Kernkraftwerks Fukushima zur Kernschmelze gekommen ist. Danja sagt, „die Katastrophe von Fukushima“, und ich sage, es gehe um Tschornobyl, und Danja sagt, „die Katastrophe von Tschernobyl“, und ich antworte, „nein, Tschornobyl, mit o, Slawa Ukrajini“. Tschornobyl ist Fukushima ist Wahnsinn. „Laut einer offiziellen Meldung der ukrainischen Aufsichtsbehörde SNRIU über die IAEA wurde am 14.02.2025 um 00:54 (MEZ) die seit 2019 bestehende neue Schutzhülle ('New Safe Confinement') des stillgelegten KKW Tschernobyl von einer Drohne getroffen“ (radiologischesereignis.gv.at, 14. Februar 2025) und „Russland beschießt Reaktorhülle von Tschernobyl“ (golem.de, 14. Februar 2025).
„Stellen Sie sich vor, Sie brächten einen großen Globus zum Drehen und feuerten aus einem Revolver Schüsse auf ihn ab.“ (Arkadi und Boris Strugazki: Picknick am Wegesrand)
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Ich bin 50 Stunden in S.T.A.L.K.E.R. 2: Heart of Chornobyl und es nimmt kein Ende: Laufen, Energydrink, Karte checken, Schießen, Nachladen, Sterben, Neuladen.
„Spielzeit für die Hauptstory: 25 bis 40 Stunden“ steht auf gamepro.de im Artikel Stalker 2-Spielzeit für Hauptstory und alle Nebenaktivitäten - Verabschiedet euch schon mal von eurem Privatleben, und darunter „Spielzeit für Completionists: bis zu 100 Stunden“. Ich bin kein Completionist, aber habe schon 50 Stunden im Spiel verbracht und bestenfalls die Hälfte der Hauptmissionen erledigt. Ich schaudere.
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In S.T.A.L.K.E.R. 2 heiße ich Skif und die Geschichte, die im Spiel erzählt wird, beginnt mit einer Explosion in meiner Wohnung. Eine Erschütterung wirft mich ins Geschehen. Es ist Nacht, ich torkle durch die dunklen Zimmer. Feuriges Schimmern ist aus der Küche zu erkennen. Ein Loch befindet sich dort, wo sie früher war. Die Außenwand ist weggesprengt, es brennt.
Du denkst, dass das eine Rakete von den рашистов gewesen sei (die Bilder aus dem Fernsehen), aber es war kein Angriff, es war Zufall, vermutlich, etwas aus der Zone ist eingeschlagen: ein kühl-glühender Stein liegt in den brennenden Resten meines Kühlschranks. Die Alarmanlage eines Autos ist zu hören und im gegenüberliegenden Wohnhaus gehen die Lichter an. Die Küche ist hinüber, die ganze Wohnung ist hinüber. Was geht mich dieser Stein an? „This stone owes me a new home.“ Mit dem Plan, den Stein zu Geld zu machen, lasse ich mich in die Zone bringen.
Die Zone ist die Umgebung rund um das Atomkraftwerk Tschornobyl in der Ukraine (Slawa Ukrajini). Sie ist die Sperrzone, „die man nicht betreten darf“. Beschreibungen fließen ineinander: Da ist die rund tausend Kilometer von mir entfernte Sperrzone rund um das Atomkraftwerk Tschornobyl in der Ukraine und da ist die Sperrzone rund um das Atomkraftwerk Tschornobyl in der Geschichte von S.T.A.L.K.E.R.. Diese Sperrzone darf ebenfalls nicht betreten werden, aber man findet in ihr besondere Artefakte, die aus der Zone herausgeschleppt, geschmuggelt und verkauft werden können, und diese Artefakte sind entstanden, weil es einige Jahre nach der ersten Explosion am 26. April 1986 noch eine zweite usw. usf.
S.T.A.L.K.E.R. 2 erzählt die Geschichte, wie ich diesen Stein gegen Geld für eine neue Wohnung eintauschen will, und von einem Trottel zum nächsten wandere. Wie so oft: Alles läuft schief. S.T.A.L.K.E.R. 2 ist nicht die Geschichte, wie ich diesen Stein verkaufe, weil eigentlich interessiert mich meine Wohnung nicht, sie ist nur der Vorwand für die tatsächliche Geschichte: meine Reise durch die Zone.
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Ich kaufe S.T.A.L.K.E.R. 2 as it came out, in den ersten Dezembertagen 2024, weil ich die Entwickler:innen unterstützen und meine moralische Überlegenheit zur Schau stellen will: Слава Україні / Slawa Ukrajini. Wie viele Entwickler:innen oder Angehörige, Bekannte, Freund:innen der Entwickler:innen, wie viele Menschen haben den Krieg nicht überlebt? Wolodymyr Yezhov von GSC Game World ist im Dezember 2022 bei Bachmut getötet worden.
Ich möchte S.T.A.L.K.E.R. 2 spielen, weil ich S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl, gespielt habe, 200… keine Ahnung, auf einem Laptop. Ich habe nostalgische Erinnerungen an das Spiel. Als im Jahr 2017 PlayerUnknown's Battlegrounds als Standalone-Spiel veröffentlicht wurde, gab es im Standard eine Besprechung mit der Bemerkung „Wer einst im Shooter 'Stalker' auf Artefaktjagd gegangen ist, dürfte sich schnell zu Hause fühlen“, und ich stimme dem zu. Ich streife durch die weite Landschaft und verstecke mich hinter Bäumen und Felsen. Durch das Visier meines Gewehrs beobachte ich leerstehende Häuser, suche Dächer und Balkone ab nach Zeichen, die auf die Anwesenheit von Gegnern hindeuten. Ich beobachte eine verlorene Gestalt im Schutzanzug und sehe, wie Tiere über sie herfallen; die Gestalt im Schutzanzug kann sich nicht gegen die mutierten Scheusale wehren. Der Stalker denkt: Um den hat sich die Zone gekümmert, hehe. Wird mich dasselbe Schicksal ereignen? Ich bin angespannt. Ich achte auf alles um mich herum. Vom Versteck aus laufe ich geduckt zu einem leerstehenden Haus, haste durch eine offene Tür und hoffe, dass sich dort niemand versteckt, der schneller schießen kann als ich.
Der Reiz von S.T.A.L.K.E.R. ist der Reiz der Erkundung: Was befindet sich in dieser Ruine? Kann ich dieses verfallene Haus betreten? Überall lauern Gefahren. S.T.A.L.K.E.R. spielen zu wollen, bedeutet, den Schritt in die verbotene Zone zu setzen. S.T.A.L.K.E.R. spielt in einem unsafe space, in dem die Regeln der Außenwelt nicht gelten und es keine Sicherheitsnetze gibt. Ein falscher Schritt, und eine Anomalie reißt dich in Stücke.
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Ich starte S.T.A.L.K.E.R. 2 zum ersten Mal wenige Tage vor Release des Patches 1.1 und es gefällt mir nicht besonders. Ich treffe mich zum Mittagessen mit Witjok Lautsprecher, der vor einigen Jahren Prypjat besucht hat, und er fragt, wie mir S.T.A.L.K.E.R. 2 gefällt. Ich sage, dass es nicht so schön wie im Gameplay-Trailer aussehe, und dass mir die Welt zu voll erscheint. Überall gebe es points of interest, überall Sachen, und eine Kompassleiste, die mir anzeigt, wo ich hinlaufen muss. Wenn ich mich durch die Zone bewege, fixiere ich den gelben Punkt am oberen Bildschirmrand und bewege mich gerade darauf zu. Das ist das Spielprinzip Open World: skif PRINZ UND WURMFRAß STOLPERND VON mission ZU mission auf die letzten mission ZU LUSTLOS IM RÜCKEN DAS GESPENST DAS IHN GEMACHT HAT GRÜN WIE (Heiner Müller: Hamletmaschine). Ich hasple spuckend beim Mittagessen mit Witjok irgendetwas über die Hamletmaschine und das Interface daher. Witjok sagt, dass das schade sei, ihn aber nicht überrasche, inzwischen sei es „scheiße“ Prypjat zu besuchen, weil die Serie Chernobyl so viele Leute angezogen hätte; er sei noch vor Chernobyl in Prypjat gewesen, wegen S.T.A.L.K.E.R., und nicht irgendeiner Fernsehserie.
Ich öffne die STALKER 2 Interactive Map auf mapgenie.io und sehe die vielen bunten Pins für die Stashes, Arch Anomalies, Collectible Artifacts, Side Missions, Unique Weapons, Fast Travel Locations & more! Ein, zwei Zoomstufen nach draußen wird die Zone zu einer bunten, unübersichtlichen Pinwand. Ich schaudere.
Ich deaktiviere den Kompass und es gefällt mir besser. Ich bemühe mich. S.T.A.L.K.E.R. 2 ist für mich wie die vierte Staffel irgendeiner Serie, über die ich sage, dass ich sie mag, und über die ich nicht zugebe, dass ich sie nicht verstehe, weil ich mich nicht mehr an das erinnern kann, was in den früheren Staffeln passiert ist. Ich kenne mich nicht aus. Es gibt viele Personen mit eigenartigen Namen und ich weiß nicht, wer sie sind.
Im Dezember kritzle ich beim Spielen die Namen der Figuren und der Fraktionen auf einen Zettel, Zenith = Noontide =? Monolith. Faust = Monolith? Wo gehört Richter hin? Sparks? Ich wechsle beim Spielen zwischen deutschen und englischen Untertiteln und es verwirrt mich. Eine Figur sagt Noontide und im Untertitel steht Zenith. Quiet heißt Stiller und Chef heißt Gaffer und Scar heißt Narbe, aber Faust heißt Faust und Richter nicht Judge. Es ist verwirrend.
Es ist vielleicht auch ein Problem, dass ich Clear Sky (2008) und Call of Pripyat (2009) nie gespielt habe. Ich schaue mir YouTube-Videos mit Stalker-Lore an, daneben der Zettel mit den Namen. Ich ergänze Duty, Wards, Clear Sky, Freedom, Nimble, Ghost, Fang, Strider, Agroprom, aber verliere den Überblick. Ich kann dieser komplizierten Geschichte mit den vielen Männern und den ganzen Sachen – Brain Scorcher, Wünschgönner, Psi-Strahlung, C-Consciousness und Noosphere – nicht folgen. Ich bin überrascht, zu erfahren, was ich im ersten Teil von S.T.A.L.K.E.R. alles getan und erfahren haben soll. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich durch die Zone geschlichen und dann in Prypjat gelandet bin, wo es wildes Geballer gab.
Abgesehen davon, dass ich der Geschichte nicht folgen kann, verstehe ich auch die Interessen der verschiedenen Fraktionen nicht. Stellt mir das Spiel die Optionen Ordnung und Disziplin und Live & let live/die einander gegenüber? Scheka Pille fragt mich, welcher Fraktion ich mich in Shadow of Chernobyl angeschlossen habe, und ich antworte mit „gar keiner“. Ich gehe keiner Fahne nach, „und wenn ich müsste, wäre sie schwarz“. Weißt du, was die schwarze Fahne bedeutet, Scheka? Ich erinnere mich durch die Lore-Videos, von denen einige mehrere Stunden dauern, wieder an Monolith: Das waren gepanzerte Stalker, richtige Tank-Stalker, die apathisch einen Monolithen, ich meine Phallus, ich meine Hitler, ich meine Putin, ich meine Schwanz, ich meine Monolithen angebetet haben. Sie hocken am Boden und murmeln ihre Gebete oder wischen auf ihrem PDA, weil „der Monolith“ zu ihnen spricht. Ich erinnere mich, dass es mir Spaß gemacht hat, diese Fanatiker zu überfallen und abzuknallen.
So gehe ich durch die Zone, stolpernd von Mission zu Verwirrung zu Mission. Ich finde nicht, dass S.T.A.L.K.E.R. 2 als Shooter besonders gut ist. Ich bewege mich zu langsam und es bringt nichts, wenn ich in Deckung gehe, weil die Schüsse der Gegner die Mauern durchdringen. Ich werde oft entdeckt und beschossen, ohne dass ich sehe, von wem oder von wo aus. Alle Gegner treffen immer, ich treffe kaum jemals. Die Gegner tragen Tarnanzüge und ich sehe sie nicht. Die Schüsse aus ihren kaputten Gewehren sind tödlich. Ich werde von einer Gruppe der gegnerischen Fraktion beschossen, laufe hinter einen Baum und werde abgeknallt, weil alle durch den Baum durchschießen können. Im Internet steht, das werde wohl noch gepatcht werden.
Die technischen Fehler stören mich sonst nicht – einmal, beim Angriff auf die Duga, wird das geskriptete Event am Ende nicht gestartet und ich muss den Angriff wiederholen und noch einmal wiederholen (ich sterbe oft) und wiederholen, aber irgendwann überlebe ich den Angriff und das Event, das die Mission beendet, findet statt. Das Spiel funktioniert okay. Es ist aber enttäuschend, dass die Zone nicht besonders abwechslungsreich aussieht. Manchmal ruft ein Kuckuck. Ich denke an Annemarie und scheppere mit den wenigen Credits und den vielen Schrauben in meiner Tasche. Die Landschaft lädt mich nicht dazu ein, an einer Stelle stehenzubleiben und etwas zu bewundern. Die Farben der Zone sind traurige Braun- und Grautöne, so sieht es in den trockenen Spätwintermonaten aus, wenn es keinen Schnee mehr gibt und die Frühlingsblumen noch nicht blühen.
Die Gewitterstürme in der Zone beeindrucken mich, aber das ist, es tut mir leid, auch alles. Wenn um mich herum der Dreck nach oben geweht wird, sich der Himmel verdunkelt und Blitze einschlagen, drängt sich mir die Zone auf. „There I was, suffocating in the rain but slowly forwards against blasts of wind, under the high-voltage power lines. Every five seconds, a deafening thunderbolt crackled nearby, the blue veins of lightning cutting through the sky’s blackness“ (Markiyan Kamysch: Stalking the Atomic City). Aber es regnet nicht immer, manchmal ist es Tag und manchmal ist es Nacht. Ich laufe zehn Minuten durch verdorrtes Gestrüpp und trinke literweise Red Bull, weil mich das Laufen durch diese faden Brauntöne ermüdet. Von den Energydrinks werde ich hungrig, und ich stopfe wobbeliges Dosenfleisch in mich hinein. Das Fleisch sieht wie Hundefutter aus, wäh. Hunde ekeln mich an.
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Am Müllberg treffe ich Richter, und er sagt, dass ich die Aussicht genießen solle, I mean, take a look at that view. In der Entfernung sehe ich Texturen flackern und Objekte aufpoppen und wieder verschwinden. „Rechts von uns lag das Institut, links das sogenannte Pestviertel. […] Die Häuser im Pestviertel standen nackt da, tot. Die Fensterscheiben waren zwar fast überall heil, doch blind vor Schmutz. Wenn man nachts hier durchkroch, konnte man genau das Leuchten und Fluoreszieren im Innern der Gebäude erkennen, so als würde Spiritus brennen, mit kleinen blauen Flammenzungen. Das war die Hexensülze, deren Dämpfe aus den Kellern hochstiegen. Dabei war es, schaute man flüchtig hin, ein Viertel wie jedes andere. Gewiß, die Häuser waren reif für eine Renovierung, doch sonst, vom Fehlen der Bewohner abgesehen, nichts Besonderes“ (Arkadi und Boris Strugazki: Picknick am Wegesrand). Richter sagt, You could find anything you wanted here, Skif: a friend, an enemy, money, death, miracles. Even yourself. Fehlt da nicht etwas in der Aufzählung, Richter? Kennst du We Found Love von Rihanna? Richter? We found love in a hopeless place, ist der Refrain. Was hörst du mit deinen Köpfhörern? Richter wirft mir eine Münze zu, und sagt, if you ever go to Prypiat, the first ride on the Ferris wheel is on me, aber er weiß nicht, dass ich in Prypjat gar nicht mit dem Riesenrad fahren kann, disappointed face emoči.
Richter ist eine eigenartige Figur. Ich weiß nicht, ob er schon in einem anderen Teil von S.T.A.L.K.E.R. vorgekommen ist. And you keep popping up where I go, sagt Skif zu ihm in einer Bar in Rostok. Ich verpasse in einer der ersten Missionen das Treffen mit ihm, weil ich nicht zu Gaffer = Chef, sondern zu Sotow gehe (keine bewusste Entscheidung, ich stand einfach zuerst vor seinem Haus), und treffe Richter zum ersten Mal in der Müllhalde und nicht in Zalissja. Ich bin erstaunt über seine freundschaftliche Vertrautheit. Wer ist das, frage ich mich. Ich denke an Voyaue au bout de la nuit und an Robinson, an Thomas in den Wohlgesinnten, beides mysteriöse Figuren. Céline scheint sein Leben endlich auf die Reihe zu bekommen, aber dann poppt Richter/Thomas/Robinson up, dieser Zwilling, mit heraushängendem Gedärm von irgendeiner Granate, und sagt, er könne kein Ortskundiger mehr sein – und alles wendet sich wieder zum Schlechteren; your shadow crosses mine (Rihanna). Was will Richter?
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Im Spätsommer 2023 besuche ich ein Theaterstück, das Motive der Zone aufgreift (aus der Strugazki-Erzählung, dem Tarkowski-Film). Es ist kein Stück auf einer Theaterbühne, sondern eine inszenierte Wanderung. Das Publikum wird vom entlegenen Bahnhof abgeholt und ein Schauspieler bringt uns in den ungepflegten Außenbereich einer alten Biker-Bar, wo Bierbänke aufgestellt sind. Dort soll der Stalker zu uns stoßen. Beim Warten auf den Stalker müssen wir Schnaps trinken, es war noch früher Vormittag. „Ohne das Zeug geht’s bei mir nicht. Wie oft ich auch schon in der Zone war, bei jedem neuen Einsatz brauch’ ich vorher ‘nen Schluck“ (Arkadi und Boris Strugazki: Picknick am Wegesrand). Der Stalker kommt und führt uns zu einem Bus mit verhängten Fensterscheiben, der uns weiter in die Zone bringt. Während der Fahrt sammelt er das Geld ein. Wir sind mehrere Stunden zu Fuß unterwegs und hocken uns mehrmals auf den Boden, wenn ein Segelflieger über uns fliegt (ein kleiner Flugplatz ist in der Nähe). Einmal werden rauchende Autoreifen von einem Hügel heruntergerollt. Wir kriechen durch Buschdickicht, in dem Wäsche aufgehängt ist, – als ob hier Flüchtlinge gelebt hätten, oder jemand, die/der nicht mehr zurückgekommen ist.
In der Zone von S.T.A.L.K.E.R. 2 gibt es keine überraschend von einem Hügel herunterrollenden Autoreifen, es gibt braunes Gras und verdorrte Büsche. Der Professor und die Schriftstellerin, Skif, ich, du, Richter, das ganze Publikum (etwa 30 Personen), wir gehen durch die Zone, trinken aus den mitgenommenen Wasserflaschen, warten zusammen, werfen Requisiten-Schraubenmuttern, machen Pause, gehen weiter, weil … warum eigentlich? To find anything you want, wie Richter gesagt hat? Man sagt, dass es in der Zone einen Ort gebe, an dem Wünsche erfüllt werden. Was will ich überhaupt?
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Es wird bald klar, dass das mit den Wünschen nur halluziniert ist. Die Zone ist kein Wunschkonzert. Damals, 2007 oder was, im Shadow of Chernobyl, konntest du noch an eingeflüsterte Versprechen über die goldene Kugel glauben, enter the zone oder find Comfort oder die magische Stadt Tar, weil dort, oder im Zentrum, dem Heart of Darkness, wartet der Wunschgönner und der lässt deine Wünsche in Erfüllung gehen. Wenn du hörst, wie dich „der Monolith“ in das Heart of Chornobyl lockt, weil dort Wünsche erfüllt werden, dann ist das ein Psychotrick, oder nicht? Release Date: 2012. Oder doch? S.T.A.L.K.E.R. 2: Heart of Chornobyl — Roadmap for Q2 2025 (14. April 2025): „A-Life/AI Updates“?
Es geht im vierten Kriegsjahr nicht mehr darum, dass Wünsche erfüllt werden. S.T.A.L.K.E.R. 2 ist kein Spiel über Wünsche, es geht um Fraktionen und es geht um Maßstäbe. „Glück für alle, umsonst, niemand soll erniedrigt von hier fortgehn!“ – was heißt das?!?!? „Alle Menschen werden Brüder“, sagt jede Fraktion und es sind immer nur die eigenen Brüder gemeint (auch die vier oder fünf Schwestern, denen man (erstmals?) in der Zone begegnen kann, werden Brüder – wenn sie dazugehören). Das Problem: Das eigene Glück ist oft der anderen Unglück.
Was der Stalker will, ist eigentlich klar; er ist ein Schätzgräber. „So nennen wir […] jene tollkühnen Männer, die auf eigenes Risiko in die Zone eindringen und herausschleppen, was sie nur auftreiben können. Direkt ein neuer Beruf ist das!“ (Arkadi und Boris Strugazki: Picknick am Wegesrand). Der Schatzgräber muss keine Wünsche haben, er muss nur beurteilen können, was ein Schatz ist und was kein Schatz ist. Aber das ist nicht so einfach. Welcher Gegenstand ist es wert ist, aus der Zone herausgeschleppt zu werden? Die Frage ist nicht: Was will Richter, oder was will ich, sondern: Nach welchem Maßstab weißt du, dass etwas das ist, was du willst? Was ist ein Schatz? Was ist das? Der reichste Mann der Welt streckt seinen Arm zum Hitlergruß nach oben, und sagt später, das sei kein Hitlergruß gewesen, sondern ein römischer Gruß, und ob das jetzt Hitler war oder nicht, schreibs in die Kommentare. Die Zone ist ein Interessenkonflikt, eine Meinungsverschiedenheit. Kurze Zeit und viele Artikel später „Hitlergruß in Fotobox: Polizei ermittelt in Kärnten“ (Marko Petelin, 23. April 2025) und „Jugendliche zeigen Hitlergruß bei Schulball in Kärnten“ (Christiane Canori-Lorenz, 26. April 2025). Wer entscheidet, was etwas ist? Welche Fraktion entscheidet, welcher Gegenstand ein Schatz ist? Wer weiß, was die Zone ist und wer entscheidet, was mit ihr passiert? Wem schließt du dich an?
What is the Chornobyl Zone today? For some people, it’s a horrible memory of their half-forgotten childhood, of their happy Soviet youth, when, in a matter of days, their life shattered into pieces, and they and all their neighbors scattered, hopping on the evacuation buses to search for new homes. For others, the Chornobyl Zone is a pile of radioactive shit cleared away in May 1986. For some, it’s a terra incognita full of myths about zombies and soldiers riding dark green armored vehicles. For others, it’s authorized tours with greedy vendors delivering lofty speeches and making money on spaced-out tourists. For some, it’s the backdrop of a popular computer game about macho men with Kalashnikov rifles who scarf down canned meat and bandage their gunshot wounds amid the fog of early-morning swamps. And still others believe that things are all bad there and see the Zone as a site from the movie Chernobyl Diaries. In my case, it’s even worse. For me, the Zone is a place to relax. (Markiyan Kamysch: Stalking the Atomic City)
„Manchmal treffen gute Menschen die falschen Entscheidungen. Ich hoffe, dass du die richtige triffst“, sagt Scar = Narbe. „[H]ast du je jemanden getroffen, der wirklich glücklich war?“, fragt Faust. Welche Maßstäbe sind die richtigen? Für die einen ist das ein kühl-glühender, dummer Stein, für die anderen ein wertvolles Artefakt, für die einen ist das eine bulgarische Spionin, für die anderen eine Freiheitskämpferin („The Austrian public prosecutor's request for pre-trial detention of Ms Doncheva was rejected and she was released.“, bbc.com, 24. März 2025), für die einen ist der Krieg gerechtfertigt, für die anderen ein Verbrechen. Andere Maßstäbe führen zu anderen Handlungen, zu einem anderen Leben.
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Vom Spiel werde ich gequält. Es nimmt kein Ende.
Der Aufenthalt im SIRCAA-Zentrum ist für mich ein Downer. Ich gehe mit dreckigen Schuhen über diesen polierten Steinboden – wo bin ich hier gelandet? Doctor Dalin irritiert mich. Ich vergleiche alles mit Control. Heißt Doctor Dalin wegen Doctor Darling so, wie er heißt? Ich will der Wissenschaft vertrauen, weil ich denke, dass sie gute Maßstäbe liefert, aber lese Feyerabend und er schreibt, „Fachleute sind voll von Vorurteilen, man kann ihnen nicht trauen und muß ihre Empfehlungen genau untersuchen“ (Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen).
Soll ich es zu Ende spielen?
Ich bin 70 Stunden in S.T.A.L.K.E.R. 2 und etliche Hauptmissionen sind noch offen. Ich schaudere.
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Wenige Wochen nach dem Kriegsausbruch in Europa, also 2022, kaufe ich mir in Innsbruck das Buch Die Zone oder Tschernobyls Söhne von Markijan Kamysch (Маркіян Камиш). Es liegt in einer Buchhandlung auf einem Tisch mit Literatur aus der Ukraine. Ich mag das Cover, aus dem ein Loch herausgestanzt ist. Ich beginne es noch im Zug zu lesen, und es ist entweder schlecht übersetzt oder schlecht geschrieben. Камиш schreibt über die Zone, und warum sie ihn anzieht. Ich halte die Sprache kaum aus. Ich schenke es meiner Buchhändlerin, die es dann gleich weiterverkauft.
Im vierten Kriegsjahr suche ich für einen Text über S.T.A.L.K.E.R. 2 im Internet nach der englischen Fassung, Stalking the Atomic City: Life Among the Decadent and the Depraved of Chornobyl, und finde sie und bin positiv überrascht. Der Text in der englischen Übersetzung ist zumutbar.
Ich blättere durch The Long Shadow of Chernobyl, den Bildband mit Fotos von Gerd Ludwig, und lese „Bäume wachsen in Innenräumen, Farbe schält sich wie Aussatz und Stuckdecken zerfallen. Die Natur demontiert die verlassene Stadt.“ Kennst du die Stelle in der Kritik der praktischen Vernunft über das moralische Gesetz und die Sterne? „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“ (AA 5: 161). Was hatte ich behauptet? Vergessen sei „Unglück und Segen zugleich“? Fukushima ist Tschornobyl ist Wahnsinn ist das moralische Gesetz ist das Weltall. Ich glotze in das Weltall hinein, in die verstrahlte Zone von Tschornobyl, in mich. Ich schaudere, schon wieder. „In these unforgettable moments, wistfulness, lyricism, and whatnot overwhelm you. […] The rust-and-star-colored steel legs of these unknown, sky-high giants make you wince, fall down on the ground, claw at the air, and dream of living next to something this huge“ (Markiyan Kamysch: Stalking the Atomic City).
Ich will wieder zurück in die Zone, aber habe keine Zeit dafür. Ich muss Code schreiben, mich kümmern, ich trauere. Meine Augen sind entzunden. Es gibt viele Dinge, mit denen ich klarkommen muss, ich rede murmelnd mit der Zone.
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Ich habe keinen Überblick und so viele Dinge gehen nicht: Ich will in der Zone irgendwo sitzen und eine Zigarette rauchen. Ich will, wenn ich von einer Tour zurückkomme, ausgezehrt und komplett überladen mit Ramsch, der kaum die Reparatur meiner ramponierten Ausrüstung wert ist, in der Bar etwas trinken. Ich möchte, dass meine Schüsse nicht so wirkungslos aussehen. Ich würde gerne mit einem Maschinengewehr auf ein Holzhaus ballern, das dann in sich zusammenfällt. Ich will mit jemandem ein Gespräch führen. Ich will in Rostok mit Illja Kanister schlafen. Nichts davon kann ich machen und „die Zone ist kein Wunschkonzert“. Ich bin wie ein räudiger Hund auf der Suche nach etwas, das ich nicht finde.
Ich lache über die Namen, die – zumindest in der deutschen Untertitelversion – lächerlich klingen, ein ukrainischer Vorname und dann ein random Substantiv als Nachname (https://github.com/booqoffsky/faker-stalker-names).
Ich erschieße Oleh Vollidiot und Mitka Magnet.
S.T.A.L.K.E.R. 2 ist ein Spiel über Männer in Militaryoutfits und mit Gasmaken, die um das Lagerfeuer sitzen und sich das erzählen, was im Internet Dad Jokes genannt wird, es ist nicht lustig, sondern unangenehm zuzuhören, cringe, und die Männer jammern, dass ihnen alles am Arsch gehe, aber sie bleiben doch hier, weil, „Die Zone lässt dich niemals gehen, Alter. Jedes Mal, wenn man kurz davor ist, nach Hause zu gehen, kommt ein letzter Befehl …“ (Liontschik Bro).
Ich sitze mit Kolja Dingwing, Walko Autor, und Kyrya Lader im Theatercafé und sie erzählen mir ihre Geschichten und ich ihnen meine. Wir alle lassen beim Erzählen Details aus, sodass wir die Geschichten gegenseitig nicht ganz verstehen können. „Vielleicht gehört das zum Älterwerden dazu“, sagt Walko Autor. Wir nicken wissend und bestellen noch ein alkoholfreies Bier. Mir klaut an diesem Abend jemand den Regenschirm und als ich das Lokal verlasse, muss ich ohne Regenschutz durch die Zone und werde nass.
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Nach 93 Stunden habe ich S.T.A.L.K.E.R. 2 abgeschlossen.
Ich denke nicht, dass ich ein gutes Ende erreicht habe, aber – es ist vorbei.
Am Ende von S.T.A.L.K.E.R. 2 geht es um eine Transformation, aber nicht ich verändere mich, sondern die Zone wird zu etwas anderem. Die größenwahnsinnige Interpretation: Die Zone wird zu mir. Kann ich mich in der Zone selbst erkennen? Ist es das, worum es geht? Wer schaut da aus der Zone heraus? Es gibt ein lustiges Meme von einem Kind, das sich einen Backofenrost vor das Gesicht hält, und so etwas sagt wie, Look at me, I am Foucault. „In meinem Gefängnis bin ich selbst der Direktor“ (Werner Kofler). „[H]ow does one know the value of freedom if one has never been free?“, fragt der Doktor.
Hast du den Film Human Flow von Ai Weiwei gesehen? Es gibt darin eine Szene, in der ein Tiger, dieses stolze Tier, von oben in einem viel zu kleinen käfigartigen Gehege gefilmt wird, und dann sieht man, wie der Tiger in sein viel zu kleines Gehege hineinscheißt. Stalker heißen nicht Tiger, sie heißen Wolf, aber auch sie sind Gefangene in einem Käfig, der Zone, und wenn sie dort hineinscheißen, wird es im Käfig ein kleines bisschen schlechter. „Die stärksten Käfige sind die in unseren Köpfen“, sagt Richter.
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Im Mai 2025 starte ich nach sechs Jahren Pause PlayerUnknown’s Battlegrounds, PUBG, und spiele eine Runde. In Taego bleibe ich vor einem Fluss stehen, weil er so schön aussieht. Ich bin von der Sichtweite überwältigt. Ich sehe kilometerweit entfernt Gegner, die versuchen, sich hinter Bäumen zu verstecken. Ich bewundere die vom Wind wankenden Bäume im Trailer von Sons of the Forest. Ich erinnere mich an den Lavendelduft in A Plague Tale: Requiem.
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Ich lade einen gut fünf Wochen alten Spielstand und bin wieder im Roten Wald. Beim Versuch, S.T.A.L.K.E.R. 2 mit dem anderen Ende abzuschließen, verirre ich mich wieder am Weg ins Neurolabor. Ich muss das Spiel minimieren und auf YouTube nachschauen, weil ich den Weg nicht finde. Es nervt. Das Spiel läuft mit Patch 1.3.2 und ich habe kein einziges Eichhörnchen gesehen (vielleicht gibt es in Prypjat keine Eichhörnchen?). Als ich die letzte Schleusentür, die in den Gang zum Labor führt, öffne, stürzt das Spiel ab. Ich sterbe zu oft beim Versuch, das Team Granit zu eliminieren, ich behaupte, dass die Gegner durch die Decke schießen, ich laufe durch den Raum und drücke auf die Aktionstaste an den entsprechenden Stellen, wo ein weißer Punkt aufleuchtet.