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Open Beta: A Plague Tale: Requiem

· 19 Minuten Lesezeit

In Open Beta öffnen wir M10Z für eure Gastbeiträge. Kurze Gedankenblitze, lange Kolumnen, Spielkritiken, … alles kann, nichts muss.

Ein Gastbeitrag von: Thomas Hainscho.

A Plague Tale: Requiem ist wie die zweite Staffel einer Netflix-Serie, die dir gefällt, von der du aber nach einem halben Jahr, einem Monat, einer Woche vergessen hast, worum es geht – wobei, nicht ganz vergessen, weil es da diese eine Szene gab und diese Figur, diese Episode und alles war so emotional. Der erste Teil Innocence hat wunderschön ausgesehen und der zweite Teil Requiem sieht auch wunderschön aus. A Plague Tale: Requiem an zwei oder drei Abenden durchzuspielen, fühlt sich an, wie eine Netflix-Serie zu bingen. Du lässt Netflix laufen, um einzuschlafen, ich spiele A Plague Tale: Requiem als Realitätsflucht.

Im Internet steht A Plague Tale: Requiem sei das Gegenteil einer Machtphantasie. Amicia, the main character, leide und scheitere. Sie nimmt ihren fünfjährigen Bruder Hugo an der Hand und die beiden laufen durch Lavendelfelder in der Provence, aber Hugo ist krank und es geht ihm immer schlechter. Wie kann ich ihm helfen? A Plague Tale: Requiem nimmt mich an der Hand und zieht mich durch die Lavendelfelder, die wunderschön aussehen und gut riechen. Aber das Spiel lässt mich nicht los und bald beginnt der Schrecken und es geht weiter, unaufhörlich, in Richtung Horror. Hugo wird sterben, oder? A Plague Tale: Requiem, eine Ohnmachtsphantasie.

Wenn Amicia stirbt, hat man verloren. You win oder you lose steht in Tekken am Ende eines Kampfes, aber in A Plague Tale, und in den meisten anderen Spielen, ist das nicht so einfach. Am Ende steht nicht da, ob ich gewonnen oder verloren habe, es wird nur ein Abspann gezeigt. Als Amicia würde ich einen Kampf wie in Tekken nicht gewinnen. Amicia ist 15 Jahre alt und schon zu Beginn am Ende. Es nervt mich zeitweise sogar, wie oft sie jammert und schlapp macht. Von der Walking-Simulation (die wunderschönen Lavendelfelder) abgesehen, ist das Spiel auch so etwas wie eine Panikattacken-Simulation. Ich muss unbedingt den Ort sowieso erreichen, mein geliebter Bruder ist todkrank. Der Weg wird von bewaffneten Soldaten bewacht und von Ratten versperrt, die sich in finsteren Ecken versammeln. Wenn ich nicht rasch irgendwelche Kräuter finde, stirbt Hugo.

Wie sollen wir an den Ratten vorbeikommen und von den Soldaten unentdeckt bleiben, wie kommen wir zum Herbalist? What do we do?, fragt Lucas, der mich begleitet. Meine Hände schwitzen. How will we even get back?!, frage ich mich. Was passiert eigentlich mit Hugo? Was ist das für eine Krankheit, die er hat? Ich verstehe überhaupt nicht, worum es geht. What?, frage ich. Ich höre, wie die Soldaten Look for anybody hiding! rufen. What do we do?, fragt mich Lucas, aber I’m dizzy und my heart’s bounding. Lucas schaut mich an und natürlich sage ich, dass ich alright sei, es gehe mir ok. Ich komme schon klar, sage ich zu Lucas, aber er zweifelt und sagt, you’re not even breathing right now, und er hat recht. Es geht mir schlecht. What is wrong with me? Meine Hände zittern, ich muss mich hinsetzen. Ich weiß nicht, wie ich das alles aushalten soll. Lucas geht allein los, ich warte, atme, betrachte meine Hände, versuche durchzuatmen, atme und höre, wie die Soldaten Lucas schnappen.

Später im Spiel bricht Amicia, breche ich zusammen. Ich bin von Pfeilen durchbohrt worden, ein Gegner hat mich mit seinem Schwert zerschnitten. Alles, was ich liebe, scheint verloren. Menschen, die ich liebe, werden vor meinen Augen umgebracht.

A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher dafür, dass ich genervt werde. Mich nervt das netflixartige Phrasengedresche. Mich nerven das hochpathethische Gequatsche und das übertriebene Getue von Amicia und von Hugo. Das sollte nicht so sein, aber so ist es. Sophia ist auch genervt, Calm down! YOU need to seriously calm down and listen to what adults tell you! And YOU are not a goddamn army!, sagt sie. Hugo sollte einfach einmal umarmt werden und Amicia sollte ihm sagen, dass sie ihn lieb hat. Ich wäre auch froh, wenn mich jemand umarmen würde, aber ich sitze vor dem Bildschirm und spiele A Plague Tale: Requiem, und weiß nicht, wofür das eine Metapher ist.

Ich habe irgendwo gelesen, dass es zwei Enden geben soll, und ich denke: das eine schlecht, das andere gut, im einen die Welt retten und mich opfern, und im anderen umgekehrt: die Welt nicht retten, aber dafür mich (ich werde damit auch nicht gerettet). Ich will die letzte Generation sein. Nach mir kommt nichts mehr (leer). Das Ende des Spiels ist dann doch anders. Es ist spannend, wobei ich mir das Ganze auch als Netflix anschauen würde und dabei einschlafen könnte. Es gibt so viele Ratten. Ich will mir Leaving Hope von den Nine Inch Nails auf YouTube anhören und mir wird ein Live-Auftritt der Band Castle Rat in der Saint Vitus Bar vorgeschlagen. Ich frage mich, ob dieser Vorschlag angezeigt wird, weil ich A Plague Tale: Requiem spiele. We are all just getting fucked by the algorithm, das ist auch so eine Art von Ohnmachtsphantasie und es ist eine Metapher.

A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher für den Zeitgeist. I’m Amicia de Rune, and I kneel to no one. Ich misstraue der Inquisition. Ich misstraue Vaudin und seinem geheimen Orden. Ich misstraue den Mächtigen. Die AUTORITÄT, die ELITE ist das schlechte. Ich bin Amicia de Rune, ich bin das Volk, I kneel to no one. Im Herbst findet in Österreich die Nationalratswahl statt. Die MÄCHTIGEN verfolgen ihre Pläne, sage ich, und ob mein kleiner Bruder stirbt oder nicht, ist DENEN egal. Mein Verdacht: sie würden Hugo umbringen, wenn es für SIE mehr MACHT bedeuten würde. Das Plakat der direkten Nachfolgepartei der NSDAP in Österreich für die EU-Wahl ist ekelerregend, typischer Populismus. Das heißt, auf der einen Seite stehen die Hardbodies mit Granitgesicht und auf der anderen Seite „da gibt es die Hakenkreuz-Fahne, einen Schwulen, da gibt es den George Soros, die EU, die EU-Fahne mit dem Hakenkreuz“, ein Windkraftwerk und alles, was schlecht und böse ist. (Was haben die Rechten eigentlich gegen Windräder?)

Würde ich Heiner Müller lesen, dann würde ich von Einsamkeit und dem Drang zum Kollektiv schreiben, aber ich lese nicht Heiner Müller, sondern spiele A Plague Tale: Requiem und ich bin Amicia de Rune, and I kneel to no lord, no count, no king – no one!

Metapher für den Zeitgeist heißt, dass sich Amicia dem Drang zum Kollektiv verweigern und die Einsamkeit ertragen will. Metapher für den Zeitgeist heißt: Mikronation Ich. Ich konsumiere in meiner selbstgewählten Einsamkeit nur mein Gemüse aus meinem Garten und meinen Strom aus meiner Photovoltaikanlage. Amicia redet von that old house in the mountains, wohin sie mit Hugo möchte, um weit weg von den Über,- Mit- und Nebenmenschen nicht mehr getriggert werden. Outside of society a chance to be happy. Heiner Müller: sein leben lang suchte er eine möglichkeit den nächsten nicht zu töten. Ich ahne schon: alle Hoffnungen werden zerschlagen werden oder sich selbst zerschlagen, es ist Requiem, und trotzdem: Das ist eine Metapher für den Zeitgeist.

Vielleicht gibt es keinen Unterschied zwischen der Mikronation Ich und der Staatsverweigerung. Vielleicht genügen ein paar Ratten, damit das eine ins andere kippt. Und dann ist der Drang zum Kollektiv wieder da: Zum Staatenbund, zu den Reichsbürgern, zur Rechtspartei, zum Nazi. Es gibt eine Impfung gegen Blödheit, aber ich lehne sie ab, weil sie mein souveränes Recht verletzt, ein Idiot zu sein. Ich laufe die Pusher Street entlang und bestätige staatlich auf Telegram, dass ich ein lebend geborener Mensch aus Fleisch und Blut bin. Ich bin gewaltbereit und bewaffnet (mit einer Steinschleuder).

Die ENF musste im Jahr 2018 rund 420.000 Euro Steuergeld zurückzahlen, die für „unangemessene Zwecke“ (= Champagner) ausgegeben worden sind. Die direkte Nachfolgepartei der NSDAP in Österreich plakatiert: Wahnsinn stoppen! Stop this madness and let the boy go!, ruft Arnaud in A Plague Tale: Requiem. Am Plakat steht: Windräder stoppen! Der Herzog antwortet: Madness makes this world go round. I will fix it my way! Ich fordere gar nichts, stammle nur, auf der Flucht vor dem Herzog, Please … stop … this madness.

Ich höre mir seit einigen Wochen fast jeden Tag Extreme Ways von Moby an. Im Musikvideo der Reprise-Version schaut Moby traurig, auf der linken Seite seines Halses ist der tätowierte Schriftzug zu lesen:

protect
the innocent
defend
the vulnerable

Ich denke, dass niemand unschuldig ist, aber halte defend the vulnerable für richtig. Es ist richtig, die Wehrlosen zu beschützen. Ich gehe ins Theater, eine Montage aus Philip K. Dicks Service Call, und der Servicetechniker im Stück erzählt vom kleinen Krieg von 2025 bis 2027 und vom großen Krieg danach. Im März 2024 spricht Putin öffentlich „dritter Weltkrieg“ aus. Im Mai erzählt der arabische ORF-Korrespondent von den „grausigen Bildern“, die man, so der Korrespondent, in Österreich nicht zu sehen bekomme, Bilder von „verkohlten Leichen zwischen den ausgebrannten Zelten“.

Ich erinnere mich, wie an die Szene einer Netflix-Serie, die ich für fünf Jahren gesehen habe, an das Kapitel 5 in Innocence, an das Schlachtfeld mit den vielen Toten und den Krähen und den Ratten, verkohlte Leichen zwischen ausgebrannten Zelten. Lucas, Hugo und ich müssen das Schlachtfeld überqueren, do we have to … walk on them?, fragt mich Hugo. Die Ölgärten brennen (1956) / Die Lavendelfelder stehen in Flammen. Ernst Mach: „Wir sind nicht Herren darüber, welche Erinnerungen uns auftauchen“.

Defend the vulnerable: Ich bin von der Beschimpfung des Militärs in A Plague Tale: Requiem angetan. Hinter einer Mauer versteckt lugen Lucas und Amicia auf die lauernden Soldaten. Ich lipsynce zu Amicia, die Drawing blood … That’s all they know sagt. Lucas entgegnet mit They’re soldiers, aber Amicia und ich widersprechen: They’re just meat with swords. Bitte, sage ich, sagen wir zum Soldaten, bitte, geh in den Krieg, du uniformierter Wichser, und lass dich von deinen Gesinnungsgenossen abknallen: ein Arschloch weniger.

Protect the innocent: Innocence–Requiem. Hugo ist fünf Jahre alt. Defend the vulnerable. Ich muss ihn beschützen. Protect the innocent. Hugo ist unschuldig. Ich muss ihn vor den Soldaten retten, vor dem Krieg, vor den Ratten, vor der Krankheit, vor diesem Wahnsinn. Protect the innocent. Ich bin auch unschuldig, ergänze ich, leise und zweifelnd. Wer hilft mir?

Warum heißt das Spiel Requiem? Erklärvideos im Internet führen aus, was das Wort Requiem bedeutet. Ich bin zwar begriffsstutzig und dumm, aber ich weiß, was ein Requiem ist, das weiß jeder Mensch. Ein Requiem findet nach dem Tod statt. Requiem kommt nach Innocence. Das Totengedenken kommt nach der Unschuld. Auf das Ende der Unschuld folgt ein Gedenken an die Toten. Was heißt das? Geht es in A Plage Tale um das Ende der Unschuld? Gerade am Anfang, wenigstens in den ersten zehn Minuten Bewegungstutorium, ist A Plague Tale: Requiem Lebensfreude (schon klar, nur um danach etc.). Requiem für was? Für wen? Wer sind die Toten?

In einem der letzten Abschnitte in Requiem gehe ich mit Hugo an der Hand durch die Welt wie durch eine Erinnerung und alle rund um uns herum sterben. Haben die Leichen irgendwas zu sagen außer (seht Skandal) wir sind die, die ihr erst sein werdet. Da sind wir. Da ist der arme, kranke, sterbende und unschuldige kleine Bruder, da bin ich, und überall, wo wir hinkommen: Tod, Verfall und Krankheit. Die Menschen um uns sterben wie die Fliegen. Aber „Requiem“? Passt dieser Name? A Plague Tale: Requiem erzählt vom Tod, aber nicht retrospektiv. Ich erinnere mich nicht an die Toten, ich bin dabei, wie alles stirbt. Ich beobachte Krankheit, Verfall und Tod, löse sie, in gewisser Weise, aus, ich bezeuge wie alles in den Abgrund stürzt. Ich bin die letzte Generation usw. Kapitel 15: Dying Sun. Nine Inch Nails: Leaving Hope, und davor: The Persistence of Loss. Ich denke an den Tod, an Beziehungskrisen, gescheiterte Freundschaften, an den Krieg, an Hugo. Dauerhafter Verlust. Ich habe Angst. Niemand hilft mir.

Ich setze mich zu Lynch, ich lasse mich neben Amicia fallen. Oh please … Please … How am I going to do this? Sie betet. Please … I can’t … Help me. Ich schaue zu, wie Amicia am Boden hockt, betet und weint. Ich habe einmal gegenüber jemandem einen dummen Kommentar über das Beten gemacht. Ich hätte auch etwas anderes sagen können, aber ich hätte in vielen Fällen etwas anderes machen können, zum Beispiel die Steinschleuder noch rechtzeitig ganz aufwerten, dann hätte ich das Not a toy anymore - Achievement bekommen.

A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher für das, worum es in einem anderen Spiel, in Hellblade: Senua’s Sacrifice, geht: Man versteht die Geschichte Stück für Stück. Ist sie psychisch krank oder passiert etwas Übernatürliches? Es ist so schade, dass die Geschichte nicht abgeschlossen bleibt und Senua durch eine Fortsetzung getrieben wird. Ich bin der Schauspielerin von Senua nach dem Spiel auf Social Media gefolgt und fand es zwar anfangs lustig, zu sehen, wie diese gequälte Keltin herumalbert, aber es hat mich dann zusehends gestört. Es war unpassend. Stell dir vor, du durchlebst Psychosen, dein fünfjähriger Bruder liegt im Sterben, aus allen Löchern quellen Todesratten hervor, Stimmen flüstern dir zu, dass du scheitern wirst, und dann postet dein Spiegelbild lustige Selfies beim Proseccotrinken, wie eine Schauspielerin, die glücklich aussieht. Ich scrolle durch den Social-Media-Account von Melina Juergens und

FOCUS, rufen Amicia und Senua, ich zucke zusammen und konzentriere mich, aber bleibe unruhig. Life is falling apart. Everything is not OK. Hey! Was ich liebe, verwandelt sich in einen Rattenalbtraum, der die Welt hasst und alles töten will. Like it always does. Das Schreckliche in Hellblade ist bereits passiert. In A Plague Tale: Requiem passiert es gerade. protect the innocent steht am Hals von Moby. Ist Hugo überhaupt innocent, wenn er You will all die! I’ll eat you alive kreischt, und aus dem Boden Ratten hervorquellen lässt, die alles vernichten? Eat you alive / We’ll rip you up and tear you in two.

Wofür sind die Ratten eine Metapher? Wenn ich ich sage (lüge ich), meine ich Amicia, aber vielleicht bin ich Hugo. Moi c’est l’autre. Wenn Amicia Hugo an der Hand nimmt (manche finden es süß, mich hat es nicht gerührt), bin ich Amicia/Hugo. Angenommen, ich wäre Hugo: was sind die Ratten? Sie brechen hervor, wenn es mir schlecht geht, wenn ich wütend bin. Ich, damit meine ich nun mich als Lügner, bin kein wütender Mensch. Die meisten Dinge sind mir egal, ich interessiere mich für dies und das, ich würde gerne weinen oder mich übergeben, aber die meisten Dinge sind mir egal. Ich bin nicht wütend. Wenn ich daran denke, wütend zu sein, stelle ich mir vor, dass sich die Erde auftut und aus allen Rissen Ratten quellen, die sich über dies und das stürzen. Ich übergebe mich endlich und weine, aber ich kotze und weine Ratten und es hört nicht mehr auf, wie im Märchen vom übergehenden Brei, überall Ratten Ratten Ratten Ratten. Zuerst sind die Ratten mein Wille und verschaffen mir Befriedigung, aber bald verliere ich die Kontrolle (immer nur eine Illusion) und alles geht unter. Die letzte Generation usw. Ich will das nicht, ich will keine totale Vernichtung. Ich, damit meine ich Amicia, gehe in die Rattenmetapher und finde mich in einem metaphysischen Reich wieder, in dem alle Bedeutungen vernebelt sind. Mir gefällt das letzte oder das vorletzte Kapitel.

Wer überlebt am Ende?

A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher für das Nicht-Zusammenpassen. Du kannst ein Spiel nicht Requiem nennen und dann einen Phönix einbauen. Heiner Müller: Ich habe dir gesagt du sollst nicht wiederkommen tot ist tot. Ich suche im Internet nach den Ursprüngen der Phönix-Figur. Gibt es einen Phönix-Mythos? A Plague Tale: Protector wäre ein passenderer Titel als Plague Tale: Requiem.

Ich lese unter irgendeinem Posting den Kommentar I did not know that people get so depressed that they struggle to shower and brush their teeth und jemand antwortet darauf mit, people get so depressed that they actually kill themselves. Im März schaue ich Des Teufels Bad im Kino an. Soap&Skin und Influencer Dave spielen sich selbst in der frühen Neuzeit. Der Film hat mich sehr beeindruckt. Soap&Skin hätte auch einfach einmal umarmt werden sollen. So viele Probleme würden verschwinden, wenn die Leute einander umarmen würden, anstatt sich gegenseitig umzubringen. Aber klar, es ist nicht so easy. Es ist einfach, dein Gegenüber zu töten, es ist schwer, jemanden zu umarmen, es ist einfach, zu lügen, es ist schwer, eine Entschuldigung anzunehmen, es ist einfach, so zu tun, als sei man tot.

A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher für die Musik der Nine Inch Nails vom 8. März 1994 bis zum 22. Jänner 2002. Das klingt etwas weit hergeholt, aber Metaphern sind Schweine. The Downward Spiral (1994) ist ein Konzeptalbum über Verzweiflung und Selbstzerstörung. Es geht um den Mr. Self-Destruct, aber der ist auch eine Metapher: Es geht um dich. Das nächste Album, The Fragile (1999), setzt „die Geschichte von The Downward Spiral fort, was darauf hindeutet, dass er den Suizidversuch in The Downward Spiral überlebt hat und jetzt versucht, wieder alles besser zu machen, allerdings nur teilweise mit dem gewünschten Erfolg“, danke Wikipedia. Abgeschlossen wird die „Fragile Era“ dann im Jahr 2002 mit dem Doppelalbum And All That Could Have Been. Die letzten drei Lieder auf der zweiten CD, Still, heißen (7) And All That Could Have Been, (8) The Persistence of Loss und (9) Leaving Hope und ich behaupte, dass auch A Plague Tale so endet. Ich stelle mir vor, was alles hätte sein können, wenn ich etwas (anderes) gesagt/nicht gesagt hätte, wenn ich es geschafft hätte, Dinge anders, besser zu machen. Es könnte schön sein. Es hätte schön sein können. Wenn ich es geschafft hätte, mit Hugo in dieses scheiß Berghaus zu kommen. Das Not a toy anymore-Achievement. Aber alle Hoffnungen haben sich zerschlagen. Auf Still endet der Text nach And All That Could Have Been. Die letzten beiden Lieder sind instrumental. Ich habe Angst vor dem endgültigen Verlust, vor dem Tod. Ich ertrage es nicht, wenn jemand ungewollt aus meinem Leben verschwindet, Hugo zum Beispiel. Da der Tod endgültig ist und in A Plague Tale nicht gepredigt wird, gibt es keine Hoffnung mehr. A Plague Tale: The Persistence of Loss. A Plague Tale: Leaving Hope.

A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher für das Leiden. Ich will eine Allmachtsphantasie, aber bin ein 15-jähriges Mädchen, das von ihrem eigenen Handel, ihrer Ohnmacht und der Welt angewidert ist und verzweifelt. A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher für eine Panikattacke. Ich schaffe es nicht, ich bin Amicia, ich gebe auf.

A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher für trauma and healing. Es gibt ein großes Finale, sehr emotional, so wie das Ende einer zweiten Staffel Netflix, und jede Hoffnung ist dahin. Aber dann gibt es noch ein Kapitel, einen Teaser, der erzählt, wie es nach dem Ende weitergeht. Ich halte das Kapitel 17 für überflüssig.

Wie geht es nach dem Ende weiter? In einem Brief an Sophie Volland am 15. Oktober 1759 schreibt Diderot:

Diejenigen, die sich im Leben geliebt haben und nebeneinander begraben werden wollen, sind vielleicht nicht ganz so verrückt, wie man glaubt. Vielleicht presst sich ihre Asche zusammen, vermischt und vereint sich! Was weiß ich? Vielleicht hat ihr Staub nicht jedes Gefühl, jede Erinnerung an ihren ersten Zustand verloren. Vielleicht ist da noch ein Rest von Wärme und Leben in ihnen, an dem sie sich in ihrer kalten Urne auf ihre Weise erfreuen.

Man kann nicht zugleich aufgeben und hoffen. Wenn Diderot so etwas schreibt, dann hat er Hoffnung. Das steht auch wörtlich im Brief: Ô ma Sophie ! il me resterait donc un espoir ; und zwar un espoir de vous toucher, de vous sentir, de vous aimer, de vous chercher, de m’unir, de me confondre avec vous quand nous ne serons plus – er hofft, es wäre möglich, dass in einigen hundert Jahren „die einzelnen Moleküle Ihres Geliebten (er meint sich selbst) in Bewegung gerieten und die Ihren suchten, die in der Natur verstreut sind.“ Das ist, wie wenn Heiner Müller schreibt „wenn ich tot bin wird mein Staub nach dir schrein.“ Und das finde ich schön und traurig, aber das ist etwas, das man sagt, bevor man aufgegeben hat, quasi beflügelt von Phönixphantasien („Laissez-moi cette chimère“). Also, wenn man noch Hoffnung hat, noch vor Level 15: Dying Sun, und wenn man die Nine Inch Nails hört, aber nicht über das siebente Lied And All That Could Have Been hinaus.

A Plague Tale: Requiem ist eine Metapher für das Unentschlossensein: aufgeben hoffen aufgeben hoffen aufgeben hoffen – keine Ahnung. Was weiß ich?! Wenn ich auf Youtube nach plage tale reuquiem ending suche, werden mir unter den ersten paar Ergebnissen, die meinen Bildschirm füllen, nur Thumbnails vom Ende des 16. Kapitels angezeigt. Erst weiter unten, nach der Werbung, die mein Ad-Block nicht mehr blockiert, werden Videos von Kapitel 17 angezeigt, z.B. Heartbreaking Ending Reactions - A Plague Tale: Requiem. (So lustig, hauptsächlich Frauengesichter im Thumbnail. Offenbar wollen die bros sich nicht beim Weinen recorden, aber für die gamergirls ist es authentisch, Tränen in Likes umzuwandeln, so emotional, lol.) Unentschlossensein heißt: nicht wissen, ob etwas eine Metapher für Phönixfedern oder für Leaving hope ist. I’m sorry … Why is it so hard?

Ich würde mir gerne einen lila Erikatrieb in die Haare stecken. Ich schaue mir 51 Minuten lang Ending Reactions, Heartbreaking Ending Reactions an, aber höre statt des Originaltons die Einstürzenden Neubauten, die Nine Inch Nails, Castle Rat und Warpaint, und würde gernen weinen, wenn ich zwei gamergirls dabei zuschaue, wie sie ihre reactions filmen und ihre Tränen acten und die feuchten Taschentücher in die Kamera halten, aber sich nicht umarmen.

Manchmal ist a = a, manchmal ist etwas eine Metapher für gar nichts, manchmal ist etwas überhaupt keine Metapher. Kapitel 9, Tales and Revelations, war wunderschön und ist jetzt die schöne Erinnerung, dass ich einmal glücklich war, mit den Menschen, die ich liebe, meinem kleinen Bruder und einer Schmugglerin mit schönen Haaren und einem elegant um die Hüfte gebundenen Tuch mit Quasten; es war schön, den Lavendelduft der Provence einzuatmen.