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Open Beta: Hatred, Kane und Lynch – Teil 4

· 18 Minuten Lesezeit

In Open Beta öffnen wir M10Z für eure Gastbeiträge. Kurze Gedankenblitze, lange Kolumnen, Spielkritiken, … alles kann, nichts muss.

Dies ist der vierte von vier Teilen in denen Thomas Hainscho in die Abgründe digitaler Gewalt eintaucht.

Ein Gastbeitrag von: Thomas Hainscho.

4

Wochen vergehen, ich huste immer noch. Überall herrscht Endzeitstimmung, meine Stimmung ist nicht besser. Weil es den Ruf hat, keine Ahnung, auch so ein verstörendes Spiel zu sein, spiele ich zum ersten Mal Kane & Lynch 2: Dog Days. Ich weiß, wie es beginnt, also bin ich nicht überrascht über das Introvideo, das eine Kamera zeigt, die filmt, wie Kane und Lynch gefoltert werden: Sie sind nackt und gefesselt, bereits ganz blutüberströmt. Ihre Körper sind misshandelt, jemand schneidet Lynch mit einem Teppichmesser auf. Kane brüllt, I fucking kill y, dann bricht diese Sequenz ab und das Spiel blendet über zu einer nebeligen Stadtskyline mit dem Text „Shanghai, two days earlier“.

Das Spiel beginnt – nach dem Introvideo – damit, dass Lynch in Shanghai am Gehsteig steht und auf Kane wartet. Kane & Lynch 2: Dog Days ist im Jahr 2010 erschienen, d. h., es ist 14 Jahre alt, und ich kann nicht vermeiden, es mit heutigen Standards zu vergleichen. An einigen Stellen sieht man die Polygonkanten und die vergleichsweise niedrige Auflösung von Texturen; das skin shading wirkt veraltet. Aber ich hatte mir eine schlechtere Erscheinung erwartet. Das Spiel schaut gut aus.

Der Verkehr in Shanghai bewegt sich zwar, aber er ist dicht und du würdest keinen freien Parkplatz finden. Leute auf Fahrrädern bewegen sich zwischen Pick-Ups, Taxis und PKWs, dazwischen fahren Motorroller vorbei, man hört eine Sirene. Es ist Nacht, die Straßen sind dreckig, alles wirkt lebendig. Stromleitungen und dubiose Kabelkonstruktionen hängen über die Straße. Müll liegt herum, Schilder mit Zeichen, die ich nicht lesen kann, leuchten grell, das Licht der Autos blendet. Kane kommt mit einem Rollkoffer an und sagt: „Lynch?“, und Lynch sagt, „Kane! Welcome to Shanghai! Long fucking flight, eh? … It’s good to see ya. It’s been a while“. Er streckt Kane die Hand entgegen, aber Kane schüttelt die Hand von Lynch nicht zur Begrüßung. Ich kenne solche eigenartigen Begrüßungen, wenn man nicht so recht weiß, ob man sich die Hand geben soll, sich umarmen oder Begrüßungsworte ausreichen. Die Geschichte von Kane & Lynch kenne ich nicht. Ich dachte, ehrlich gesagt, dass Kane und Lynch Figuren aus irgendeinem Comic seien, der hier zu einem Computerspiel Teil zwei verarbeitet worden ist. Der Titel nennt die Namen der beiden Protagonisten und Kane & Lynch klingt für mich wie Tom & Jerry, Dick & Doof oder Mario & Luigi. Ich dachte, Kane und Lynch wären Buddys, warum soll ihre Show sonst einen Namen wie Mario & Luigi tragen. Aber stell dir vor, Mario würde Luigi bei der ersten Begegnung im neuen Teil nicht, nicht einmal, die entgegengestreckte Hand zur Begrüßung schütteln. In welchem Verhältnis stehen die beiden zueinander?

Als ich den Trailer für GTA VI gesehen habe – bei dem die Fanboys und -girls im Kommentarbereich vollkommen ausgeflippt sind, can’t wait usw. – dachte ich zum ersten Mal ein Spiel mit Stau zu sehen, wie es ihn auf Straßen in der Wirklichkeit auch gibt. Der Gehsteig in Kane & Lynch 2 auf dem Lynch steht und auf Kane wartet, ist durch parkende Autos von der Straße getrennt. Wenn ich „parkende Autos“ schreibe, heißt das nicht, dass soundso viele im gleichen Winkel ausgerichtete Fahrzeugmodelle platziert sind, sondern Autos stehen dort schief geparkt und mit verdrehten Reifen, sie stehen dort teilweise halb am Gehsteig. Man sieht im GTA-Trailer kurz (bei Sekunde 33) den Ocean Drive, diese Straße zwischen Strand und Nachtclubs, die ich noch aus Vice City kenne; das ist die kurze Sequenz, bei der ich dachte, noch nie ein Autospiel mit Stau gesehen zu haben. Im GTA-Trailer sieht man die am Rand geparkten blank polierten Sportautos und ich bemerke, dass diese hot rides, oder wie man sagt, einfach als soundso viele im gleichen Winkel ausgerichtete Fahrzeugmodelle platziert sind (damit es „realistisch“ aussieht, ist der Abstand zwischen Gehsteigkante und Fahrzeugmodelle nicht immer gleich, aber der Winkel der Fahrzeuge, behaupte ich, ist es schon). Schau es dir an, bei Sekunde 33 beginnt die Sequenz, sie dauert nur eine Sekunde, und stell diesem Eindruck den Eindruck der Straßenverhältnisse am Anfang von Kane & Lynch 2 gegenüber.

Nach der gescheiterten Begrüßung – Kane will auch nicht, dass Lynch ihm den Koffer abnimmt – gehen die beiden ein paar Schritte, weichen telefonierenden Leuten aus, steigen vielleicht in dreckige Wasserlachen, gehen an Typen im Tanktop oder mit nacktem Oberkörper vorbei. Der Straßenlärm ist laut, Kane und Lynch biegen vor einem Restaurant in eine Seitengasse ab, die zu einem Innenhof führt, wo Lynch noch kurz etwas erledigen muss, „I just gotta do this one thing … I need to talk to this guy in here and send him a message“. Alles wirkt dreckig und verschwitzt. Ich war noch nie in Shanghai. Sieht es dort so aus? Ich kann es mir vorstellen. Ich denke an eine U-Bahn im Sommer, verschwitzte Körper, meine beschlagene Brille, wenn ich einen Mundschutz trage; ich hätte ihn öfter tragen sollen. Der zweite Teil von Kane & Lynch hat den Untertitel Dog Days, Hundstage, die „hot, sultry days of summer“, wie es auf Wikipedia heißt. Ulrich Seidl hat im Jahr 2001 den Film Hundstage gedreht, der „die tiefen Abgründe in der scheinbar heilen Welt einer Wiener Vorstadt an den heißesten Tagen des Jahres“ schildert. Die Haut der Figuren in Kane & Lynch 2 sieht technisch nicht mehr aktuell aus, sie glänzt, aber das passt auch irgendwie. Es ist Nacht in Shanghai und es ist heiß. Eine Nacht ohne Abkühlung, die auf einen Hundstag folgt. Ich denke an die schwitzigen, haarigen Oberarme und Achseln der Leute, die im Unterhemd oder mit nacktem Oberkörper in öffentlichen Verkehrsmitteln stehen, oder die Menschen, die zu nah an mir vorbeijoggen und mich mit ihren Schweißtropfen benetzen (Tröpfcheninfektion).

Mich überrascht auch das Gameplay am Beginn von Kane & Lynch 2. Das Spiel bricht mit meinen Erwartungen. Ich dachte, dass ich nach einem Zoom von hinten auf die Figuren die Steuerung übernehme, aber dem ist nicht so. Kane und Lynch unterhalten sich, gehen um die Ecke, aber die Steuerung ist noch nicht mir übertragen, das Spiel (?) bewegt die Figuren. Vielleicht ist das sogar besser so: Wenn ich in einem neuen Spiel zum ersten Mal die Steuerung übernehme, möchte ich herumlaufen, alles inspizieren, ausprobieren, wie ich mich bewegen kann (ich denke an den Anfang von The Last of Us, nach dem Einstieg aus der Vergangenheit. Es gab so viel zu sehen in den Straßen der Quarantänezone von Boston und ich wollte das alles anschauen. Statt dass ich Tess zum Checkpoint folge, laufe ich herum wie ein dummer zappeliger Hund, der an jedem Laternenmast stehenbleibt. Ich schaue die Leute an, laufe dahin und dorthin an, bleibe dort und da stehen, lausche den Dialogen usw.). Dieses Herumzappeln von mir bricht mit der Story. Warum laufe ich so eigenartig herum, wenn ich eigentlich in Richtung des Ziels gehen sollte? In Kane & Lynch 2 ist Herumzappeln nicht möglich, weil diese vielleicht zwei Minuten Spaziergang mit expositional dialogue eine vom Spiel gesteuerte Sequenz zum Zuschauen sind. Mir gefällt diese Entscheidung. Es ist nicht nötig, dass ich WASD drücke, um wie ein angeleinter Hund der Erzählung nachzugehen.

Als ich dann doch die Steuerung übernehme und das Spiel tatsächlich anfängt, beginnt pausenlose Action. Das Spiel ist dicht, es lässt kaum neuen Atem fassen. Kane und Lynch ballern sich von Level zu Level, von random Wohnungen zu Einkaufsstraßen, durch die Hinterhöfe von Shanghai, durch sweatshops, wet markets, Parkhäuser, Fabrikhallen, usw., und immer vom momentanen Tiefpunkt zum nächsten Tiefpunkt: alles läuft schief, alles eskaliert, Kane und Lynch ballern sich in einer Abwärtsspirale in Richtung Elend.

Die einzige Interaktion im Spiel mit anderen Menschen ist das Töten. Ich knalle reihenweise die Bevölkerung von Shanghai ab, Gangster, Polizisten, Zivilist:innen in meiner Schusslinie (die Statistik zeigt mir, dass das Achievement „You want blood: 1.000 kills“ am Ende zu 825/1000 erfüllt ist). Das Spiel ist schwierig, ich ändere den Schwierigkeitsgrad nach ein paar Levels von hard auf medium und sterbe auch oft genug.

Was das Töten und Sterben betrifft, ist Kane & Lynch 2 erbarmungslos. Es ist in gewisser Weise unvorstellbar, dass im Jahr 2024 ein Ballerspiel erscheint, das nicht vollkommen übergeschnappt daherkommt (Hatred) und in dem man innocent civilians töten kann. Das gibt es vielleicht in Call of Duty, No Russian, um damit einen Kommentar zur Gewalt in Computerspielen zu performen. Aber 2010 ballere ich in Kane & Lynch 2 auf der Autobahn hinter einem Lastwagen in Richtung enemies und töte dabei auch unbeteiligte Leute. Damit wird kein Counter wie in Hatred hochgezählt oder Gewalt politisch oder moralisch kommentiert, das ist eine Erfahrung im Spiel und etwas, das du aushalten musst. Lynch ist, du als Lynch bist, ein brutaler und erbarmungsloser Mörder. Gewalt ist ständig präsent.

Im Internet wird Kane & Lynch 2 als cover shooter bezeichnet. Das Gameplay besteht ausschließlich darin, Deckung zu suchen, von Deckung zu Deckung zu huschen und so auf die enemies zu schießen, die sich ebenfalls in Deckung begeben. Das ist monoton, aber es bleibt für mich bis zum Ende ein Spektakel. Wenn ich einem Gegner aus der Nähe begegne, etwa wenn ich hinter eine Säule hechte, aber dort jemand unerwartet steht, möchte ich die Taste für den Melee-Angriff drücken, es gibt aber keine und ich bin irritiert. Ich erinnere mich, dass ich auch irritiert war, als ich zum ersten Mal ein Spiel mit Melee-Angriff gespielt habe und es nicht so richtig verstanden habe, warum man enemies mit einer Taste umbringen kann. Das erschien mir wie ein Reaktions-Minispiel im Spiel zu sein: Einerseits musst du jemanden soundso oft mit Schüssen aus einer Waffe treffen, andererseits reicht ein Faustschlag, oder als was auch immer der Melee-Angriff interpretiert wird. Passt das zusammen? Ich drücke in Kane & Lynch 2 ein paar Mal intuitiv V, wenn ich jemandem in der Nähe begegne und nichts passiert. Bevor ich mit der rechten Maustaste gezielt und mit der linken Maustaste gefeuert habe, liege ich erschossen am Boden.

Das Ich, das erschossen am Boden liegt: Gleich nach dem Intro übernimmt man die Steuerung von Lynch (ich lese im Internet, dass man im ersten Teil Kane gesteuert hat). Kane & Lynch 2 ist, wenn man so will, ein third person cover shooter, aber die Perspektive ist untypisch. Die Third-Person-Modification von Hatred bietet zum Beispiel eine typische Third-Person-Perspektive: Die Kameraposition befindet sich starr hinter d Protagonist:in und bewegt sich analog zu den Eingaben, analog dazu dreht und bewegt sich d Protagonist:in. Die typische Third-Person-Kamera ist starr, so als ob sie fix an ein stabiles, unsichtbares Stativ montiert wäre, das d Protagonist:in folgt. In Kane & Lynch 2 ist die Kamera nicht starr. Lynch zu folgen, sieht so aus, als ob ihm jemand mit einer Handheld-Camera nachläuft und alles filmt. Das heißt, der Bildausschnitt wackelt, schwankt hin und her, wie eine Kamera eben wackelt, wenn man sich bewegt und gleichzeitig filmt – wenig, wenn man/Lynch langsam geht, stark, wenn Lynch/man läuft. In gewisser Weise steuert man gleichzeitig Lynch und die Kamera hinter ihm. Im Livevideo von Infernal War ist eine Kamera über dem Schlagzeug montiert, ihr Bild zeigt die Band von hinten und das Publikum von vorne. Die Musik ist sehr laut und die Kamera wackelt, der Bildausschnitt ist trotz der fixen Montage der Kamera niemals still. So sieht auch das Bild von Kane & Lynch 2 aus. Es ist unruhig und getrieben, wie die Kamera auf der Bühne eines Metalkonzerts. Wenn Lynch getroffen wird, sind Blutspritzer am Bild zu sehen. Das kennt man von First-Person-Shootern, aber in Kane & Lynch 2 macht das Sinn, weil es so aussieht, als ob sein Blut auf meine Kamera spritzt, die diese Elendswelt dann mit einer blutigen Linsenreflexion aufnimmt. Wenn man stirbt, wenn Lynch erschossen wird, fällt er tot auf den Boden und ich auch. Aber ich denke, ich stütze nicht als Lynch zu Boden, sondern als die unsichtbare Person, die die Kamera trägt.

Man sieht manchmal, am Beginn eines neuen Levels oder nach dem Restart, wenn man gestorben ist, einen Timecode eingeblendet. Ich kann das nicht deuten. Auch technische Probleme der Kamera (ich nenne es einmal so) kommen vor: Bei lauten Geräuschen, und es gibt extremen Lärm im Spiel, wackelt alles und Bildfehler, Glitches, würde ich sagen, treten auf, Artefakte und Verzerrungen im Bild. Der Ton wird manchmal so wiedergegeben – und deswegen kann ich von „extremen Lärm“ („Unglaublicher Lärm“ wie die Einstürzenden Neubauten sagen würden) schreiben – wie es klingt, wenn die maximale Amplitude des Mikrophons erreicht und überschritten wird. Die sexuellen und gewalttätigen Überschreitungen – zerschossene Köpfe, der entblößte Penis, die entblößte Vulva, Brüste nackter Frauen – werden verpixelt gezeigt. Dazu gibt es grelle Lichter, die wörtlich, buchstäblich blenden, und quasi ständiges lautes Schreien und Fluchen. Das Spiel überflutet meine Sinne, Kane & Lynch 2: Dog Days, Sensory Overload. Die Gewalt ist zu viel, dass alles schiefgeht, ist zu viel, die Lichter, die Lautstärke, das alles ist zu viel. Nicht alle Gefechte sind gleich intensiv, aber wenn von allen Seiten geschossen, geflucht und gestorben wird, überwältigt Kane & Lynch 2. Auch die Kamera, die das alles einfangen soll, wird an ihre Grenzen gebracht.

An einem Punkt im Spiel bricht Lynch aus Trauer und Verzweiflung zusammen. Er hockt sich auf den Boden, überall Tote, tausend offene Probleme und er weint. Das ist für Ballerspielmaßstäbe überraschend, denke ich. Würden Duke Nukem oder der Doomguy weinend zusammenbrechen? Ich will mich in gewisser Weise zu dem armen und widerlichen Schwein dazusetzen und sagen, dass die Welt schlecht ist. Mir ist auch alles zu viel. Ja, Lynch. „You fucking idiot … Kane, I had a life, you know. Then you came. Fucked it up as always! I can’t do this any more! […] go fuck yourself, Kane! Fuck off home!“ Aber Lynch und Kane raffen sich zusammen und dann geht es weiter. „This is all I got … and I need your help. Are you with me?“

Das ist so eine Art männlicher Verbrüderung. (Wenn ich Kane und Lynch überhaupt als zwei Personen begreifen möchte und nicht als zwei Teile einer Persönlichkeit, meiner. Wenn ich den ersten Teil des Spiels kennen würde und die Figuren besser verstünde, würde ich so etwas sagen wie „Ich bin Kane und Lynch“ – und erklären, was das bedeutet.) Überhaupt ist Kane & Lynch 2 ein Männerspiel. Das ist nichts untypisches, denn welches Ballerspiel gibt keine typisch männliche Perspektive vor? Aber in gewisser Weise ist Kane & Lynch 2 auch hier auffällig anders. Kane ist laut Fandom-Wiki im Jahr 1969 geboren, Lynch 1964, sie sind beide über 40. Schau dir den männlichen Körper im Spiel an: Lynch hat vorne eine Halbglatze und hinten schulterlange Haare, er hat einen Bierbauch und trägt ein Unterhemd mit Sakko darüber. Seine Haare sind strähnig und ich stelle mir vor, wie etliche seiner langen ausgegangenen Haare oben am Sakko kleben. Das Sakko ist das einzige Kleidungsstück, das man als Mann tragen kann, wenn man sich gut anziehen möchte. Ich habe vor etlichen Jahren Ianina in Wien besucht und mit ihr Michael, den ich von Twitter kannte, getroffen, und er trug ein Unterhemd mit Sakko. „Feinripp ist für Champions“, oder so ähnlich, hatte er auf Twitter geschrieben. Ist Lynch ein Feinripp-Champion oder bloß ein grindiger, alter Sack? Ich bin wie du, Lynch, du Schwein. Lynch ist, lese ich auf Wikipedia, schizophren und nimmt Medikamente. (Es ist, in gewisser Weise, nicht plausibel, dass er nach seinem Zusammenbruch einfach „Are you with me?“ akzeptiert, aufsteht und weiter ballert.) Die eindringlichste und vielleicht beste Darstellung von Schizophrenie in einem Computerspiel ist Hellblade: Senua’s Sacrifice gelungen. (Ich ärgere mich, dass diese schöne und zu einem Ende gebrachte Geschichte nicht abgeschlossen bleibt, sondern fortgesetzt wird; der Gameplay-Reveal-Trailer des zweiten Teils sieht schön aus, aber wirkt nach Effekthascherei, noch größer und geiler und noch mehr, usw., unterlegt mit Musik der Effekthaschereiband Heilung, oh dear.) In Hellblade: Senua’s Sacrifice bewege ich mich durch die Welt, aber weiß nicht genau, ob es meine innere Welt oder die Außenwelt ist, und Stimmen rufen und flüstern mir Widersprüche zu, die Stimmen sagen mir, dass ich es schaffen werde, sagen mir, dass ich scheitern werde, rufen die Namen meiner Geliebten, sie beleidigen mich, es ist, wie wahnsinnig zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob Lynch Stimmen hört, das Spiel ist eine Dauerüberflutung an Lärm, Geballer und Geschrei. Schreit Lynch tatsächlich „What the fuck is happening?“ oder „Take control“ oder hört er eine innere Stimme oder hört er, wie Kane schreit und flucht? Was ist der Unterschied? Vielleicht sind die beiden doch nur eine Person.

Am Ende bin ich enttäuscht, dass das Spiel schon zu Ende ist. Ich bin weder zufriedener noch klüger als zuvor. Ich finde auch mit Kane & Lynch 2 keinen Trost. Das Spiel hat nicht lange gedauert, weniger als vier Stunden, die ich an zwei Abenden gespielt habe. Während ein Amoklauf an der Karls-Universität in Prag stattfindet, erschieße ich im virtuellen Shanghai reihenweise Gangster, Polizisten und unglückliche Pixelzivilist:innen. In den Nachrichten wird berichtet, dass es in Palästina kein Krankenhaus mehr gibt, in das man gehen kann. Kane & Lynch 2 ist, in gewisser Weise, wie ein Rausch. Hatred ist nicht wie ein Rausch. Der Pro-/Antagonist in Hatred sagt zwar „I never thought it would be so easy to slaughter my whole neighborhood. I can feel their pain, their suffering flowing through my veins. It’s like the most intense drug and I need more … much more!“, aber das kaufe ich ihm nicht ab. Dieser idiotische Not Important hat Gefallen am Töten, er sagt, „Let me introduce myself: I’m a man of hate and disgust“, und zitiert die Rolling Stones, lol. Aber Hatred ist zu langatmig und zu frustrierend, als dass es mir Spaß machen würde. Auch Kane und Lynch haben keinen Spaß, sie leiden, und ihr Spiel macht mir keinen Spaß, in dem Sinn, dass es mir Freude bereiten würde, sondern es fasziniert und fesselt mich. Ich sage zwar, es sei wie ein Rausch, aber keiner, den man genießt, eher ein bad trip, dem du nicht entkommst, wenn man den Vergleich behalten möchte. Die Reizüberflutung bleibt mir stärker in Erinnerung als die Story des Spiels. Eine ständige Reizüberflutung ist das, was ich mir von Anger Foot erwarte, und vielleicht war Kane & Lynch 2 dafür auch ein Vorbild. (Die Verpixelung von Genitalien gibt es zum Beispiel in beiden Spielen, soweit ich das im Anger-Foot-Trailer sehe; aber das mag es in vielen Spielen geben.) Anger Foot schaut nach Spaß und Party aus. Kane & Lynch 2 ist das Gegenteil von Partyspaß: Du verlierst alles, was du liebst, und siehst keinen Ausweg in einer Welt, die in Gewalt und Verzweiflung versinkt. Dazu spielt kein Hardstyle, sondern wieder Dark Ambient. Mona Mur hat die Musik von Kane & Lynch 2 komponiert, düsteres Getöse legt sich über heitere K-Pop-Töne und überdeckt, erstickt, in gewisser Weise, alles. Ich höre mir den Soundtrack mehrmals durch und lese Das Haus der Puppen zu Ende. Das Buch endet schrecklich.

Let me please introduce myself, I come from Hatred, Despair, Kane and Lynch, and if you meet me have some sympathy. Fomobot schreibt: zittern, sich zusammenreißen, Computerspielen, schreiben, zittern. Ich male mein Gesicht mit corpsepaint an und in einer Shanghaier Karaoke-Bar singe ich I’m ashamed of the things I’ve been put through, I’m ashamed of the person I am, aber zu unanständig fröhlicher Keyboardmusik, zu der man gut tanzen kann. Das ist Eskapismus, wie die kryptische Erwartung des lucky prize am Ende des Lieds.

Ich weiß nicht, ob es etwas Anständiges gibt, das ich tun kann. Ich starte Hatred erneut und aktiviere die Modification. Zieliński sagt, das Spiel sei ehrlich, weil die Gewalt ein Selbstzweck sei, und dass Hatred ohne Pseudophilosophie daherkomme. Dabei muss man Menschen töten, um ins nächste Level zu kommen, wo man noch mehr Menschen töten muss; das ist die ärgste Pseudophilosophie. Ich will Hatred ohne Pseudophilosophie. Not Important erklärt wie er heißt, und sagt „I just fucking hate this world and the human worms feasting on its carcass.“ ich verlasse meine Mancave in Richtung der Bushaltestelle, an der ich immer die ersten Opfer erschossen habe, und feuere mein Gewehr nicht ab. Es gibt keinen Befehl, um die Waffe fallen zu lassen, also trage ich sie in meinen Händen, aber ich werde niemanden damit töten. Die innocent civilians laufen vor mir davon, sie schreien und einige stolpern, aber sie haben nichts zu befürchten. Ich gehe den Gehsteig entlang und betrachte die Gärten, oder eben den Rasen, rund um die Häuser. Das Gras ist seltsam lang, niemand hat gemäht. Ich kann nicht sagen, zu welcher Jahreszeit Hatred spielt. Da und dort stehen volle Mülltonnen. Als ich zum Just & Kate Supermarkt komme, fährt ein Polizeiauto vor, zwei police officers steigen aus und erschießen mich. Ich hoffe, Vergil ärgert sich darüber, dass seine Faschismus-Mod die Erfahrung eines Hautfarbenswaps vermittelt und ich einfach so beim Spazierengehen in den USA von police officers erschossen werde. Ich habe keinen Respawn-Point, es ist zu Ende. Ich beende das Spiel und lösche die Mod.