Zum Hauptinhalt springen

Open Beta: Hatred, Kane und Lynch – Teil 3

· 8 Minuten Lesezeit

In Open Beta öffnen wir M10Z für eure Gastbeiträge. Kurze Gedankenblitze, lange Kolumnen, Spielkritiken, … alles kann, nichts muss.

Dies ist der dritte von vier Teilen in denen Thomas Hainscho in die Abgründe digitaler Gewalt eintaucht.

Ein Gastbeitrag von: Thomas Hainscho.

3

Auf mobygames.com werden die credits für Hatred angeführt und als zuständig für „Writing for the Antagonist“ wird Herr Warcrimer genannt, das ist der Sänger von Infernal War, einer polnischen Black-Metal-Band aus Częstochowa. Auf metal-archives.com steht, dass er nicht nur die Dialoge, sondern auch die Story von Hatred geschrieben habe (ich weiß nicht, ob das stimmt). Ich kenne Infernal War nicht, höre mir die Aufnahme von einem Liveauftritt auf dem Metalmania-Festival 2017 in Katowice an und finde die Musik gut. Die Lieder auf Polnisch verstehe ich gar nicht und bei den Death Growls auf Englisch auch nur Bruchstücke, aber man kann die Texte online auf Englisch übersetzt nachlesen. Dass es überhaupt offengelegte Lyrics gibt und ich sie online nachlesen kann, finde ich überraschend (das heißt für mich: die Band hat eine Botschaft und will sie verbreiten). Texte und Botschaft sind genau das, was du dir von einer Black-Metal-Band erwartest: kill rape death genocide usw.

Ich finde es ein wenig peinlich, sich mit „Writing for the Antagonist“ als Autor von Oneliners wie „Welcome to your nightmare, motherfuckers“ und „Shut the fuck up and die“ usw. auszuweisen, aber oke. Im Lied Shatterer Of Liberty am Album Redesekration: The Gospel Of Hatred And Apotheosis Of Genocide gibt es die Zeile „the only wind of change is the breath of war“ – das ist quasi Heraklit. Der Oneliner „Only my weapon understands me“ des Pro-/Antagonisten stammt nicht von Herr Warcrimer, sondern ist von Postal übernommen.

Ich denke, dass „Herr Warcrimer“ nicht der echte Name des Sängers ist. Dass er sich Herr nennt und warcrime pseudodeutsch auf -r flektiert, wirkt auf mich verdächtig … ist er etwa auch ein N-Wort? Aber Infernal War beruhigen und schreiben auf ihrer Website, sie seien nicht politisch: „The band stands for the extermination of weak and ignorant human masses, being neither a political band nor a NSBM band“ (die Website ist offline, aber der Link zur archivierten Version steht auf der deutschen Wikipediaseite der Band). In den Jahren von 1997 bis 2002 hießen Infernal War zwar Infernal SS, aber das sei inzwischen geändert; auf der deutschen Wikipediaseite ist ein Interview mit „Herr Warcrimer“ verlinkt, in dem er Fragen mit Holocaustrelativierung beantwortet; in einem Interview auf metal-rules.com aus dem Jahr 2016 sagt er: „it’s white social justice workers who try to find evil nazis everywhere“.

Das ist das große, große Problem mit dem Interesse am Abgründigen. Man muss sich die Akte der Gewalt, die Verbrechen schon anschauen, wenn man sie verstehen möchte, und man muss sie sich genau anschauen. Aber der Unterschied zwischen Anschauen und Mitmachen, zwischen Betrachten und Befürworten ist diffus: ein Abgrenzungsproblem. Du landest bald bei den Superlativen, dem Unaussprechlichen und alles, was du sagst, tust, herstellst, ist nur mehr geschmacklos. Ich weiß warum Joy Division so heißen, wie sie heißen. Es ist abstoßend. J.G. Thirwell erzählt in einem alten Interview (abgedruckt im Buch Art That Kills: A Panoramic Portrait of Aesthetic Terrorism 1984–2001 von George Petros) davon, wie er Hitler-Portraits gemalt und das Hakenkreuz als graphisches Element eingesetzt hat: „I wanted to sound louder than everything else. I transposed that onto my graphic identity. I wanted loud graphics.“ (Ich kenne diese graphischen Arbeiten nicht und finde davon auch nichts im Internet, ich kenne nur seine CD-Covers und ihn als Musiker.) Wie weit bin ich mit transgression und aesthetic terrorism einverstanden? Boyd Rice (der auch in Art That Kills vorkommt) fragt im Lied People, „Do you ever think about what a lovely place the world would be without all the people that make life so unpleasant?“ – und wenn ich ihm eine Antwort darauf geben müsste, dann würde ich mit ja antworten, und gleich ergänzen, dass die Welt ein besserer Ort wäre ohne die Vergils und Igoresos, ohne Innenminister, die rechtswidrige Abschiebungen von in Österreich geborenen Kindern durchführen lassen und ungeniert einen Magistertitel tragen mit einer seitenweise abgeschriebenen Diplomarbeit. Rice stellt im Lied seine Suggestivfragen, die ich durchwegs bejahe, und am Ende fragt er dann Whatever happened to Vlad the Impaler? – oder Hitler, Mussolini, Nero, Diocletian, etc. come back! Wenn du ein anständiger Mensch bist, gefriert dir am Ende des Lieds das Blut in den Adern.

Während ich Hatred spiele, töten israelische Soldaten drei Geiseln, versehentlich. Im Oktober hatte der israelische Minister für Kulturerbe, Amichai Eliyahu, עמיחי אליהו, in einem Interview „That’s one option“ geantwortet, when the interviewer asked whether the Israeli minister advocated dropping “some kind of atomic bomb” on the Gaza Strip. Die Leute, denen ich auf Social Media folge, posten ihre Empörung über Antisemitismus, teilen herz- und kopflos islamophobe Postings anderer oder teilen kopf- und herzlos antisemitische Postings. Verstehe ich etwas nicht oder läuft bei den anderen etwas schief? Ich weiß nicht, ob es passend ist, gerade jetzt Hatred zu spielen, aber ich denke, dass es verlogen wäre, Hatred aus aktuellem Anlass nicht zu spielen. Auf der Wikipediaseite „Liste der andauernden Kriege und bewaffneten Konflikte“ werden die geschätzten und gerundeten Todesopfer der weltweiten bewaffneten Konflikte pro Jahr in einer Tabelle aufgezählt. Seit 2018 steigt die fünfstellige Zahl an, im Jahr 2022 sind vermutlich 238.000 Menschen in Kriegen und bewaffneten Konflikten getötet worden. Lies die Zahl noch einmal und sprich sie laut aus, zweihundertachtunddreißigtausend. Krieg ist kein wind of change, sondern Dauerzustand. Ich lehne Krieg ab. Von Thirlwell und Rice sind es in Art That Kills nur wenige Seiten weiter zu vollkommen Wahnsinnigen wie Tom Metzger, James Mason oder Michael Moynihan. Ich habe keine Antwort auf die Frage, wie weit ich bei der transgression und dem aesthetic terrorism mitgehe. Es gibt eine Ästhetik der Gewalt (schau einmal einen Tarantino-Film an, zum Beispiel die Schwarz-Weiß-Kampfszene in Kill Bill, oder meinetwegen einen Film von Zack Snyder) und es gibt eine Ästhetik des Hässlichen. Du kannst Gewalt in Filmen, Computerspielen usw. erträglich inszenieren, du kannst sie cool inszenieren (Kill Bill), du kannst versuchen, Filme, Computerspiele usw. durch den Einsatz von Gewalt unerträglich zu machen (The Human Centipede 2), und das kann dir gelingen oder nicht gelingen. Die Frage nach der moralischen Dimension ist etwas anderes (moralische Grenzen sind anders bestimmt als ästhetische). Aber ist die Gewalt, der ich mich ästhetisch aussetze, die fiktionalisierte Gewalt, von anderer Art als die Gewalt, von der in den Nachrichten berichtet wird, die faktische Gewalt?

Als ich noch mit COVID im Bett lag, hatte ich begonnen, Das Haus der Puppen von Ka-Tsetnik 135633, יחיאל די-נור, zu lesen, aber dann aufgrund der Augenentzündung abgebrochen. Später lese ich darin eine Passage, die ich als Exekution in Hatred nicht ernstnehmen konnte, in der ein deutscher Konzentrationslageraufseher mit seinem Stiefel dem jüdischen Mädchen Hanna aus Chebin den Kopf zerstampft. Ich lese das Buch, während ich diesen Text schreibe, und es ist zum Verzweifeln. Die Welt ist entsetzlich. Das Buch ist bizarr, ist es Wirklichkeit, ist es Fiktion? Was ist der Unterschied? Die Wirklichkeit, was auch immer das sein soll, wird von der Fiktion eingeholt. 1911 malt Umberto Boccioni La strada entra nella casa (Die Straße dringt ins Haus). Ende des Jahres scrolle ich beim Frühstück durch Instagram und jemand teilt eine Videoaufnahme von Motaz Azaiza, einem Fotografen aus Gaza, der vor einem Krankenhaus einen Mann filmt, der mit zwei Kindern in den Armen aus einem Auto aussteigt; er trägt im einen Arm ein kleines blutüberströmtes Mädchen und im anderen Arm hängt ein Kleinkind, eigentlich ein Baby, mit zerfetztem Gesicht leblos nach unten. Es ist falsch, das zu beschreiben, es ist falsch, das ins Internet zu stellen, es ist falsch, das zu filmen, es ist falsch, dass so etwas passiert. Die Straße dringt durch den Bildschirm ins Haus, und das, was am Bildschirm zu sehen ist, dringt in mich. Mir erzählt ein Seniorstudent in einer Sprechstunde, dass er noch nie in seinem Leben so entsetzliche Nachrichten wie jetzt erlebt hat (einige Tage zuvor hat Tim Cupal, der ORF-Korrespondent in Tel Aviv, im Live-Interview von den Blutlachen erzählt, die er am Boden israelischer Kindergärten gesehen hat).

Mit der Third-Person-Ansicht erreiche ich in Hatred das Ende des Downtown-Levels, aber irgendein Fehler tritt auf. Ich muss noch soundsoviele Soldaten töten, um das Level verlassen zu können, aber es tauchen keine Soldaten mehr auf. Niemand taucht mehr auf, das Level ist leer. Ich laufe schwer bewaffnet durch die leere Stadt, da und dort stehen brennende Autowracks, ich passiere die zerstörten Gebäude und alles erscheint sinnlos. Vielleicht spawnen irgendwo noch vereinzelt civilians, aber es wäre sinnlos, sie zu töten, weil ich Soldaten töten muss, keine civilians. Die Dark-Ambient-Musik passt zu der Stimmung: es ist deprimierend. Ich stehe in einer leeren, düsteren Welt und weiß nicht mehr weiter. Ich will keine Faschismus-Modification für ein Computerspiel spielen, das von einem Studio entwickelt worden ist, das seine Spiele mit historischen KZ-Aufnahmen bewirbt. Ich will Hatred auch nicht aus einem epistemologischen Anreiz heraus spielen, weil ich wissen oder erfahren will, what it is like to be a mass murderer on a killing spree. Ich hatte die naive Hoffnung, dass Hatred meine Verzweiflung zerstreuen könnte. Aber es gibt keinen Trost und macht nur wenig Spaß. Ich verstehe Hatred als eine Verzweiflungssimulation, es sollte Despair heißen.

Zum letzten Teil.