Wenn die Reise endet, endet das Spiel
Wenn ich durch meine Spielebibliothek scrolle, fällt mir ein Muster auf, das ich nicht leugnen kann: Ich liebe Multiplayer-Spiele. Das klingt vielleicht irritierend, aber Videospiele waren für mich schon immer etwas Gemeinschaftliches. Natürlich habe ich auch Singleplayer-Titel gespielt – und geliebt. Innerhalb der M10Z-Community ist es fast schon ein Meme, dass ich Slay the Spire für das beste Spiel aller Zeiten halte. Und ja, das tue ich aus tiefstem Herzen.
Meine eigentliche Leidenschaft liegt dennoch im kooperativen Gameplay. Und mit dieser Leidenschaft verbinden sich bestimmte Vorzüge: das Endlosspiel, das Endgame. Viele der Titel, die ich über Jahre hinweg immer wieder starte, besitzen genau das – eine Dauerschleife, einen Gameplay-Loop, den man gemeinsam erforscht, vertieft und manchmal auch aushält. Ich liebe es, mit einer Truppe unerschrockener Kamerad*innen wiederkehrende Herausforderungen zu meistern. Egal ob PvE oder PvP. Wir scheuen uns nicht davor, tief in den Abgrund des Endgames hinabzusteigen.
Purist*innen mögen jetzt die Nase rümpfen. Immer wieder das Gleiche tun? Wo bleibt da der Reiz? Und ehrlich gesagt: Ich kann diesen Einwand nachvollziehen. Es gibt eine Grenze, eine Dosis, die ich genießen kann. Wird sie überschritten, wird aus Spiel Arbeit, aus Motivation Grind. Dann ziehe ich weiter – zu einer neuen Erfahrung oder zu einer alten, neu aufgewärmten. Und genau an diesem Punkt beginnt die Geschichte, die mich zu diesem Text gebracht hat.
Vor einigen Wochen bin ich zu einer längst vergessenen Erfahrung zurückgekehrt: Guild Wars 2. Nach fast zehn Jahren Abstinenz habe ich mich wieder in ein klassisches MMORPG gewagt. Ich spielte es 2012 direkt zum Release und verlor mich damals ziemlich schnell darin. Das abwechslungsreiche Leveln, die Vielfalt im Skillsystem, das ausgeklügelte PvP – vieles fühlte sich frisch und durchdacht an. Doch wie in so vielen MMOs setzte irgendwann die Sättigung ein. Ich hörte auf. Und spielte seitdem tatsächlich kein traditionelles MMORPG mehr.
Nun also die Rückkehr. Und was soll ich sagen: Es ist fantastisch. Guild Wars 2 hat seine alten Stärken behalten und sie mit klugen Neuerungen ergänzt. Meine alte Flamme für das Genre loderte plötzlich wieder. Ich kaufte mir im Sale die Erweiterungen und startete neu. Mein alter Account ließ sich zunächst nicht wiederherstellen, also begann ich komplett von vorne. Meine alten Kriegskameraden hingegen griffen wieder auf ihre bestehenden Charaktere zu – und waren erstmal mehr mit Orientierung als mit Spielen beschäftigt.
Ich tauchte derweil direkt ein. Die ersten zwanzig Level vergingen wie im Flug, kurz darauf war ich jenseits der fünfzig und das Maxlevel von 80 rückte in greifbare Nähe. Meine Freunde stürzten sich währenddessen bereits ins Endgame. Welt gegen Welt sorgte für Jubel im Discord. Zwar erlaubt Guild Wars 2 auch mit niedrigerem Level die Teilnahme an WvW, doch echte Begeisterung stellte sich bei mir erst mit dem Maxlevel in Aussicht. Also spielte ich weiter. Wir liefen Dungeons, erkundeten die Welt, sammelten Materialien, crafteten und erledigten Quests.
Und dann entdeckte ich ihn: einen Gegenstand in meinem Inventar, der dort bisher nie gewesen war. Ein Klick – und mein Charakter wäre sofort Level 80. Ein Geschenk der Entwickler für Spieler*innen, die mit den Erweiterungen direkt ins Endgame einsteigen wollen. Eine Abkürzung. Eine Einladung.
Ich wäre unehrlich, würde ich behaupten, nicht darüber nachgedacht zu haben. Die Versuchung war da. Die Entwickler flüsterten mir förmlich zu: „Komm schon. Auf ins Endgame.“ Auch meine Freunde meinten, dass man jenseits von Level 50 ohnehin kaum noch Neues erlebt. Man deckt Karten auf, schaltet Fähigkeiten frei, arbeitet To-do-Listen ab. Und trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen. Es fühlte sich falsch an.
Irgendwann wurde mir klar, warum.
Auch wenn ich Spiele wegen ihres Endgames spiele, ist es nie das Endgame allein, das mich bei der Stange hält. Es ist das Zusammenspiel aus Reise, Ziel und Kameradschaft. Eine Reise ohne Endgame trete ich nicht an. Ein Endgame ohne Reise fühlt sich leer an. Und ein Spiel ohne Kameradschaft kaufe ich meist gar nicht erst. Das ist mein persönliches Triforce.
Die Reise ist dabei kein optionaler Prolog. Sie ist ein zentraler Bestandteil der Erfahrung. Wenn ich meinen Charakter nicht wachsen sehe, ihn nicht gestalten, erleben und verändern kann – wenn ich keine Builds ausprobieren, scheitern, verwerfen und neu zusammensetzen darf – dann will ich diesen Charakter auch nicht im Endgame spielen.
Ich habe den Levelboost nicht genutzt. Für mich ist er langweilig. Und mehr noch: Er beraubt mich einer Erfahrung, die ich bewusst machen möchte. Ich glaube sogar, dass er viele Spieler*innen um genau diese Erfahrung bringt. Der Fokus auf das Endgame kann Spiele töten.
Es kommt vor, dass ich in manchen Spielen das Endgame nie erreiche. In ARPGs wie Diablo oder zuletzt in der aktuellen Season von Last Epoch ist mir genau das passiert. Das mag für einige deprimierend sein. Für mich ist es das nicht. Denn ich weiß: Ein Endgame ohne Reise ist genauso unvollkommen wie eine Reise ohne Ziel.
Vielleicht ist es altmodisch, so zu denken. Vielleicht bin ich einfach jemand, der lieber langsam ankommt. Aber für mich verlieren Spiele ihren Zauber, wenn sie mir sagen, dass ich schneller sein sollte.
Ich will stolpern dürfen. Ich will mich umentscheiden. Ich will Zeit verschwenden – mit Freunden, mit Builds, mit Ideen, die am Ende vielleicht scheitern. Und genau deshalb frage ich mich, ob wir uns mit unserem Hunger nach Endgame nicht selbst um etwas bringen.
Denn wenn der Weg egal wird, was bleibt dann eigentlich noch vom Ziel?